Wohnungsbau trotz mancher Widrigkeiten

Bauverein

Wohnungsbau trotz mancher Widrigkeiten

Genossenschaft prägt 100 Jahre Baugeschichte in Sindlingen

Von Heide Noll

Vom Esstisch aus blickt die Familie ins Grüne. Von der Küche führt eine Tür direkt in den Garten. Hinter dem Zaun wiegen sich Bäume sanft im Wind. Vögel zwitschern, Rosen blühen, alles ist grün und friedlich. Man könnte meinen, irgendwo auf dem Land zu sein. Tatsächlich liegt diese Idylle aber in Frankfurt. In der Ferdinand-Hofmann-Straße grenzen die Gärten der denkmalgeschützten Häuser auf der östlichen Straßenseite direkt ans Wasserwerkswäldchen.
Auch die gegenüberliegenden Häuser haben Gärten. Ebenso diejenigen entlang Bahn- und Neulandstraße. Das Kerngebiet des Bauvereins entstand ab 1920 als „Gartenstadt“. Durch angegliederte Parzellen sollten auch Bewohner kleiner Mietwohnungen gesunde Umweltverhältnisse vorfinden und durch Kleintierhaltung und Gemüsebau ihre Versorgung verbessern können – eine enorme Verbesserung gegenüber Zuständen wie in der Höchster Altstadt, wo Industriearbeiter unter erbärmlichen, beengten Bedingungen hausten.
Die große Wohnungsnot im Zug der Industrialisierung, des Zuzugs von Tausenden von Arbeitskräften in die Farbwerke, war ein drängendes Problem des beginnenden 20. Jahrhunderts. Trotzdem wurde nur wenig gebaut. Stefan A. Kaiser, der die Geschichte des Bauvereins zur 75-Jahrfeier 1989 in einer Chronik zusammenfasste, machte mangelnde Rentabilität, steigende Bodenpreise und die problematische Verwaltung als Gründe dafür aus. Allenfalls genossenschaftliche Baugesellschaften konnten öffentliche Darlehen erlangen. Das gab den Anstoß zur Gründung des „Bauvereins für Höchst am Main und Umgebung“ am 18. April 1914. Jeder konnte Genossenschaftsanteile erwerben, Mitglied werden und eine – zu dem Zeitpunkt allerdings noch nicht vorhandene – Wohnung mieten.
Das Bauen gestaltete sich schwierig. Erst brach der Erste Weltkrieg aus, dann okkupierten Franzosen das Gelände im Höchster Oberfeld, auf dem der Bauverein eine Siedlung errichten wollte. Statt der Wohnungen entstand eine Kaserne. In den 20-er Jahren erschwerte die Inflation jeglichen Erwerb. Grundbesitzer bauten lieber Nahrungsmittel an, als ihre Parzellen gegen unsicheres Geld abzugeben.
So war der Aufschrei groß, als Bauverein und Stadtbauamt der Stadt Höchst das Sindlinger Gelände zwischen der Wiesbadener und Limburger Bahnstrecke zum Baugebiet erklärten. Sindlingen war erst 1917 zu Höchst eingemeindet worden. 1919 begann Höchst ein Enteignungsverfahren, um in den Besitz des Landes zu kommen. Insbesondere Landwirte leisteten erbitterten Widerstand. Dennoch wurde 1919 ein 7,3 Hektar großes Gelände enteignet.
Für das neue Baugebiet plante Stadtbaurat Paul Wempe eine „Gartenstadt“ mit gefälliger Architektur und reichlich Grün. Der „Bahnhof Höchst-West“, der heutige Sindlinger S-Bahnhof, sollte das Herzstück sein, mit einem halbrunden Platz (Richard-Weidlich-Platz), von dem strahlenförmig Erschließungsstraßen abgingen. Schmale Wohnstraßen wie die Edenkobener Straße sollten die Radialstraßen untereinander verbinden. 800 bis 900 Wohnungen sollten auf 50 Hektar Fläche entstehen, berichtet Stefan A. Kaiser in der Chronik.
Nur ein Teil der Pläne wurde umgesetzt – der heutige Altbaubestand, bestehend aus rund 300 Wohnungen mit durchschnittlich 200 Quadratmetern Garten.
Während der Nazi-Zeit kam die Neubautätigkeit zum Erliegen. Den Krieg überstand die Siedlung so gut wie unbeschadet. Deshalb erklärten sie die Alliierten zur Transitunterkunft für britische Soldaten. Am 5. Juni 1945 mussten die Bewohner ihre Wohnungen innerhalb von zwei Stunden verlassen. Erst ab dem 23. Januar 1946 wurden die Räume nach und nach zurück gegeben, die letzten im Juni 1947. Danach waren Reparaturen angesagt – und dann Wohnungsbau im großen Stil. Denn durch Ausgebombte, Vertriebene und Flüchtlinge fehlte es allerorten an Wohnraum. Zunächst passte der Bauverein die Bauweise noch an die vorhandene Bebauung an. Dann aber übertrug er Bauträgerschaft, Planung und Ausführung an die Nassauische Heimstätte. Sie nahm wenig Rücksicht auf den alten Siedlungsplan. Die Gesellschaft baute zunächst schlichte, für die fünfziger Jahre typische Wohnblöcke, später in Zeilenbauweise gehaltene, quer zur Straße gelegene Blöcke (Hugo-Kallenbach-Straße).
1961 plante und baute der Bauverein wieder selbst – ebenfalls im funktionalen Stil der Zeit. Architekt Günther Bock gestaltete die ersten Häuser in der Hermann-Küster-Straße. Die Wohnblöcke mit den nahezu flachen Dächern galten damals als modern und schick. Bis 1965 entstanden so Wohnungen für mehr als 330 Familien. Allerdings stellte sich später heraus, dass während dieses Baubooms teilweise schludrig gearbeitet worden war. In späteren Jahren traten häufig Mängel auf und zogen hohe Instandhaltungskosten nach sich.
In den Folgejahren waren einmal mehr Geld und Baugrund knapp. Die Genossenschaft bebaute restliche Flächen, füllte Lücken. Letztes großes Projekt war der über 100 Meter lange und sieben bis neun Geschosse hohe „Riegel“ am Nordwestrand der Siedlung.
Fortan standen Modernisierung und Instandhaltung auf dem Plan. In Unterliederbach hatte der Bauverein von der Baugesellschaft Höchst die Siedlung Engelsruhe übernommen. Die ab 1892 gebauten Doppelhäuser wurden teils modernisiert, teils abgerissen und durch eine Wohnanlage mit 40 Partien ersetzt.
Danach sah es mau aus. Die Schaffung von Wohnraum war kaum noch möglich. Wollte der Verein nicht zur reinen Wohnungsverwaltung degenerieren, musste er neue Lösungen finden. Deshalb wertet Kaiser im Rückblick den Bau der Altenwohnanlage Zehnthof in Sindlingen-Süd als neuen Abschnitt. Aus dem früheren Hofgut wurde eine Wohnanlage und der Bauverein baute erstmals im alten Ort. Es folgten eine zweite Altenwohnanlage am Zeilsheimer Ortsrand (1983, Bielefelder Straße), ein Neubau in Unterliederbach (1985) und einer in der Heussleinstraße.
Danach ging es vor allem um den Erhalt der denkmalgeschützten Ferdinand-Hofmann-Siedlung und aufwendige Renovierungen in den Bauten der Hermann-Küster-Straße. Durch das Aufstocken, die Umwandlung von Speichern in Wohnungen, kamen einige Wohnungen zusätzlich in den Bestand.
Das erste große Bauvorhaben seither geschieht gerade in der Unterliederbacher Engelsruhe. 14 alte Doppelhäuser wurden bis September 2013 abgerissen. An ihrer Stelle entstehen für rund 8,4 Millionen Euro 52 Wohnungen in Anlehnung an die Philosophie der Gründer als „Gartencarrée“. Alle Erdgeschosswohnungen haben Gärten, die oben liegenden großzügige Balkone. „Wir versuchen, die Philosophie der Gartenstadt trotz hoher Baulandpreise in die Moderne zu übertragen“, sagt Vorstandsmitglied Brigitte Erbe. Damit auch dort Familien am Esstisch sitzen und ins Grüne blicken können.

Blick über die Hermann-Küster-Straße in Richtung Industriepark.

Blick über die Hermann-Küster-Straße in Richtung Industriepark.

So sollte der Paul-Kirchhof-Platz ursprünglich einmal aussehen.

So sollte der Paul-Kirchhof-Platz ursprünglich einmal aussehen.

Die Ladenzeile in der Hugo-Kallenbach-Straße kurz nach ihrer Errichtung 1959.

Die Ladenzeile in der Hugo-Kallenbach-Straße kurz nach ihrer Errichtung 1959.

Die Birnbaumblüte in der Edenkobener Straße erinnert daran, dass früher einmal jeder Altbau einen Obstbaum im Vorgarten stehen hatte.

Die Birnbaumblüte in der Edenkobener Straße erinnert daran, dass früher einmal jeder Altbau einen Obstbaum im Vorgarten stehen hatte.

Das Bürgerhaus war stets umstritten. Der Betonbau des Architekten Bock von 1963 erhielt einerseits Preise, wurde andererseits aber von vielen Bürgern als unpassend und hässlich geschmäht. Fotos/Repros: Achim Schulz

Das Bürgerhaus war stets umstritten. Der Betonbau des Architekten Bock von 1963 erhielt einerseits Preise, wurde andererseits aber von vielen Bürgern als unpassend und hässlich geschmäht.
Fotos/Repros: Achim Schulz

Auf dieser Luftaufnahme von 1979 ist die Struktur der „Gartenstadt“ Sindlingen-Nord gut zu erkennen. Vorne liegt der Richard-Weidlich-Platz mit dem Bürgerhaus, links hinten sind die 60-er und 70-er Jahre-Bauten und am oberen Bildrand Zeilsheim zu erkennen. Repro: Achim Schulz

Auf dieser Luftaufnahme von 1979 ist die Struktur der „Gartenstadt“ Sindlingen-Nord gut zu erkennen. Vorne liegt der Richard-Weidlich-Platz mit dem Bürgerhaus, links hinten sind die 60-er und 70-er Jahre-Bauten und am oberen Bildrand Zeilsheim zu erkennen. Repro: Achim Schulz

Bauverein7 Bauverein3 Bauverein2