Ein Dorf im Aufschwung – Dann kommt der Krieg

Heimat- und Geschichtsverein

Ein Dorf im Aufschwung – Dann kommt der Krieg

Vortrag über Sindlingen, die Sindlinger und das Jahr 1914

Zehn Millionen Soldaten fielen im Ersten Weltkrieg. Unter diesen Toten waren auch Sindlinger. Allein in den ersten fünf Kriegsmonaten des Jahres 1914 mussten die Angehörigen den Tod von siebzehn Männern verkraften. Wie der Krieg das Leben im Dorf veränderte, hat Dieter Frank, Vorsitzender des Heimat- und Geschichtsvereins, recherchiert. Mit Hilfe verschiedener Archive ist es ihm gelungen zu skizzieren, „wie sich der Kriegsbeginn auf das Leben der Menschen ausgewirkt hat“, sagte er zu Beginn eines gut besuchten Vortrags im evangelischen Gemeindehaus mit dem Titel Sindlingen, die Sindlinger und das Jahr 1914.
Zu Jahresbeginn 1914 war in Sindlingen die Welt noch in Ordnung. Etwas mehr als 4000 Einwohner lebten in 550 Wohnhäusern der selbständigen, landwirtschaftlich geprägten Gemeinde. Sie hielten in etwa genausoviel Vieh, davon 2802 Hühner, 642 Schweine, 316 Ziegen und 271Rinder, wenige Schafe und weiteres Geflügel. Ein Gemeinderat aus 18 Mitgliedern lenkte die Geschicke, an der Spitze der legendäre Bürgermeister Huthmacher, nach dem eine Straße benannt ist, und Rohrmeister Westenberger als sein Vertreter. Zwei Gendarmen (Karell und Rendel) und ein Feldschütz (Spengler) wahrten die Ordnung. Der Nachtwächter, der 1912 für mehr Geld streikte, war entlassen worden.
Die Sindlinger wirtschafteten gut. Ihr Haushalt war im Plus, obwohl sie gerade in jenen Jahren viel in Schulen den Friedhof, die Kanalisation und den Wegebau investierten. Allgemein herrschte wirtschaftlicher Aufschwung. Gerade hatte an der Ecke Okrifteler Straße/Allesinastraße ein Kaufhaus (Schade und Füllgrabe) eröffnet. In der Farbenstraße (dort, wo später der Bierbrunnen war und heute eine Pizzeria) stand das Kaufhaus der Farbwerke. Seit 1910 entstand in der Verlängerung der Gustavsallee die „Villenkolonie“ für führende Mitarbeiter der Farbwerke. Entsprechend der Kaufkraft und der im Vergleich zu heute geringen Mobilität prosperierte der Handel. Sechs Bekleidungsgeschäfte, fünf Haushaltswarenläden, sieben Lebensmittelgeschäfte, sechs Bäcker, vier Metzger, drei Kaufhäuser und zwölf Gaststätten versorgten die Sindlinger mit dem Nötigen.
1914 feierte der evangelische Pfarrer Ludwig Weber sein 25-jähriges Dienstjubiläum. In der Schule wurden erstmals Zeugnishefte eingeführt. Am 24. Januar feierte man den Geburtstag des Kaisers. In Höchst konstituierte sich der Bauverein, der später entscheidend am Wachstum Sindlingens beteiligt war. Im Juli 1914 stieg das Kreiskriegerverbandsfest im Ort, mit Tagung, Festessen, Festzug und Fahnenweihe. Es war das letzte große gesellschaftliche Ereignis. Denn dann kam der Krieg.
„Erzherzog Franz Ferdinand von Oesterreich und Gemahlin ermordet!“, lautete die Schlagzeile im Kreisblatt vom 29. Juni 1914. Im Lauf des Juli spitzte sich die Lage zu, am 31. Juli 1914 verordnete der Kaiser die Mobilmachung. Das wurde allenthalben frenetisch begrüßt. Europa wollte den Krieg. In Sindlingen dagegen „ist von Hurra-Stimmung nichts bekannt“, sagte Dieter Frank.
Die Zeitungen veröffentlichten Bekanntmachungen, wer sich wo zu melden hatte. Der Polizeisergeant brachte den wehrpflichtigen Männern zwischen 17 und 45 Jahren ihre Einrückbefehle in die Gutleutkaserne und nach Mainz, alles getreu dem Mobilmachungsplan, den es für jeden Ort gab. Neben den Mannschaften stellte der Ort zwei Autos (eins von der Familie Meister, eins vom Kaufmann Frank) und etliche Pferde zur Verfügung. Der zivile Zugverkehr kam zum Erliegen. Das Militär brauchte alle Fahrzeuge, um Mensch und Material zu transportieren. Die Frauen, angeführt von Else von Meister (Vorsitzende Frauenverein) und Ida Laumann (Vorsitzende Mütterverein), sammelten „Liebesgaben“: Haltbare Nahrung, warme Kleider, Taschenmesser und andere Dinge, die ein Soldat im Feld gut brauchen konnte. Auch Vereine wie Turnverein und Gesangverein unterstützten ihre kämpfenden Mitglieder. Im Rathaus wurde eine öffentliche Schreibstube für die Feldpost eingerichtet.
Am 11. August 1914 starb der erste Sindlinger in einer Schlacht. Peter Hescher fiel einem Kopfschuss zum Opfer. Im September wurde die Turnhalle der Meisterschule zum Lazarett. Der Krieg dauerte an. Schon bald zeigte sich, dass das Kaiserreich wirtschaftlich nicht auf längere Kämpfe eingerichtet war. Nahrung wurde knapp, bereits im Februar 1915 kam es zu Hungerunruhen in Frankfurt. Die Zahl der Opfer stieg. Aus Sindlingen sind die Namen von 17 Männern bekannt, die allein 1914 fielen. Am Ende sind mehr als 270 Sindlinger auf den Schlachtfeldern gestorben oder schwer verwundet worden. hn

Über Sindlingen 1914 sprach Dieter Frank, Vorsitzender des Geschichtsvereins. Foto: Michael Sittig

Über Sindlingen 1914 sprach Dieter Frank, Vorsitzender des Geschichtsvereins. Foto: Michael Sittig

Postkarten und Einzelschicksale

Mit zwei weiteren Vorträgen will der Heimat- und Geschichtsverein die Kriegsjahre 1914 bis 1918 beleuchten. Am Montag, 23. Februar 2015, spricht die Hofheimer Stadtarchivarin Roswitha Schlecker ab 19.30 Uhr im evangelischen Gemeindehaus über „Von der Propaganda bis zum Kitsch – Das weite Feld der Kriegsillustrationen im Ersten Weltkrieg“. Außerdem recherchieren die Mitglieder des Vereins Einzelschicksale von Sindlinger Soldaten. Über individuelle Schicksale und Erlebnisse soll 2016 gesprochen werden.