Quartiersmanagement zieht Bilanz – Wird die „Aktive Nachbarschaft“ zum Selbstläufer?

Hermann-Brill-Straße

Es tut sich was – aber wie geht es weiter?

Quartiersmanagement zieht Bilanz – Wird die „Aktive Nachbarschaft“ zum Selbstläufer?

Von Heide Noll

Wilde Müllhalden, Vandalismus, bedrohlich wirkende Jugendliche: Der Ruf der Hermann-Brill-Straße ist nicht gut. In den Wohnblocks der Gesellschaften ABG und Nassauische Heimstätte leben über 1200 Menschen, die mit dem Rest von Sindlingen nicht viel zu tun haben. Oder umgekehrt: Mit denen der Rest von Sindlingen nicht viel zu tun hat. Oder die Reste: Denn auch zwischen dem alten Ortskern im Süden und den jüngeren Wohnsiedlungen im Norden ist die Bahnlinie nicht das einzig Trennende. Von einem „dreigeteilten“ Stadtteil war jüngst in einem Zeitungsbericht die Rede.
„Schreiben Sie doch mal, was gut ist an Sindlingen. Über die Erfolge“, rät eine, die das ewige Klagen über alles, alle und jeden zur Genüge kennt. Marja Glage kam 2008 als Quartiersmanagerin nach Sindlingen, um den sozialen Brennpunkt Hermann-Brill-Straße zu entschärfen. In Trägerschaft der Caritas und Zusammenarbeit mit der Stadt sowie in Kooperation mit Sindlinger Vereinen und Einrichtungen hat sich seither viel getan. Ziel ist eine „Aktive Nachbarschaft“.
Nun nähert sich das auf fünf Jahre befristete Projekt dem Ende. Zeit, Bilanz zu ziehen und zu sehen, ob die Steuergelder sinnvoll ausgegeben wurden. Zeit auch, darüber nachzudenken, wie es weitergehen kann. In zwei „Zukunftswerkstätten“ setzten sich Bewohner wie „Stadtteilakteure“, also Menschen, die sich in einem Verein oder einer Institution für Sindlingen engagieren, damit auseinander.
Viele „Früchte“ trägt ein symbolischer Apfelbaum, den die Bewohner erstellt haben. Kurse, Feste, Arbeitsgruppen – viele Angebote, viele Möglichkeiten sich zu engagieren oder etwas dazu zu lernen. Manche fühlen sich jetzt heimischer in Sindlingen. Damit das Bäumchen gedeiht, muss es weiterhin gegossen werden. Eine „Gießkanne“ listet auf, was jeder beitragen kann: mehr Eigeninitiative, eine AG für die Planung von Veranstaltungen, regelmäßige Treffen und manches mehr.
Auch die Akteure, die in Strategiekonferenzen über das Erreichte diskutierten und mögliche Perspektiven suchten, erkennen an, dass sich in der Hermann-Brill-Straße etwas getan hat. „Die Erfolge werden gesehen, aber es besteht weiter Handlungsbedarf“, fasst Glage das Ergebnis zusammen. Die Akteure arbeiten nun an einer Vereinbarung zur Fortführung der „Aktiven Nachbarschaft“.
Sie können auf dem Vorhandenem aufbauen. „In der ersten Phase hieß es oft: Toll, dass es sowas gibt, aber es ändert sich ja doch nichts“, erinnert sich Marja Glage an den Beginn. Bewohner des Quartiers nahmen keinen Anteil am Geschehen im Rest des Ortes. Im alten Ort gab es keine Identifikation mit dem Quartier. Selbst innerhalb der Hermann-Brill-Straße kannten sich nicht viele. Das hat sich geändert. „Ein Bewußtseinswandel hat sich vollzogen“, kontastiert Glage. Durch die Projekte und Kooperationen haben die einen gemerkt, was der Stadtteil alles zu bieten hat, und die anderen, dass das Vorhandensein eines Angebots alleine nicht ausreicht. „Das Gegebene akzeptieren“ nennt das die Quartiersmanagerin: Wer kaum lesen kann, hat kein Interesse am Angebot der Stadtteilbücherei. Über das Sprachcafé jedoch lassen sich ebenso Brücken schlagen wie über Alphabetisierungskurse. Glage sah es daher anfangs als ihre Aufgabe, Projekte aufzubauen und Leute anzusprechen. Daraus sind so verschiedene Angebote geworden wie eine soziale Beratung, Sport für Hochbetagte und für Frauen, das Hilfenetz Sindlingen/Zeilsheim, ein „Kick am Nachmittag“ für Jugendliche, ein Taschengeldprojekt, der „Frischhalteclub“ oder der Bewohnertreff. „Zwei Veranstaltungen am Tag, 60 bis 70 Teilnehmer jede Woche“ kommen so zusammen, sagt Marja Glage. Auf einmal kennen sich Leute. Sie grüßen sich auf der Straße. Anwohner übernehmen Funktionen. Sie geben selbst Kurse, oder sie vermitteln. Doch bis dahin war es ein weiter Weg, und es ist noch längst nicht alles heile Welt. Müll ist nach wie vor ein Problem. Die Einhaltung der Hausordnung wie das Benehmen im öffentlichen Raum sind ebenfalls häufig Anlass für Beschwerden. Da braucht es einen langen Atem. Ob die „aktive Nachbarschaft“ ohne professionelles Management zum Selbstläufer wird, ist in den Augen der Bewohner wie der Stadtteilakteure fraglich.
In anderen Bezirken, die fünf Jahre lang durch ein Quartiersmanagement betreut wurden, habe es Folgelösungen auf Basis von halben Stellen gegeben, sagt Glage. Das sei auch für Sindlingen denkbar und soll so in der Vereinbarung stehen, die über den Ortsbeirat an die Stadtverordnetenversammlung weitergereicht wird. Aufgabe der Quartiersmanagerin wäre dann weniger das Anstoßen neuer Projekte als vielmehr die Vermittlung, der Gesamtblick, die Unterstützung für alle, die etwas beitragen möchten. Anlaufstelle zu sein. Ziel sei es, für alle einen Mehrwert zu schaffen. Für die Bewohner, die Vereine, die Institutionen. „Ist es möglich, die positive Entwicklung in der Hermann-Brill-Straße so zu nutzen, dass sie treibende Kraft für ganz Sindlingen werden kann?“, fragt Glage.

Das Quartier

Das „Quartier“ Hermann-Brill-Straße umfasst die Wohnblocks zwischen Hoechster Farbenstraße, Westenberger Straße und Bahnstraße. Die Häuser wurden in den 50-er und 60-er Jahren gebaut, als die Wohnungsnot groß war. 298 Wohnungen gehören der ABG Frankfurt-Holding, 354 der Nassauischen Heimstätte. „Es sind keine sozialgebundenen Wohnungen“, erklärt Quartiersmanagerin Marja Glage. Die Arbeitslosigkeit liegt einer Erhebung zufolge bei 7 Prozent. 2008 zählte das Quartier 1575 Einwohner (Sindlingen gesamt: 9100), etwa zur Hälfte Deutsche, zur einem Viertel Deutsche mit Migrationshintergrund und zu einem Viertel Ausländer ohne deutschen Pass. Türken stellen die größte Gruppe, gefolgt von Marokkanern und Eriträern.