Kein Fußballexperte
Kein Fußballexperte
Während der Weltmeisterschaft gab es überall, wo Menschen zusammen kamen, kaum ein anderes Thema als Fußball. Auch in der Bäckerei beherrschte die WM die Gespräche. Der Sindlinger Mario Gesiarz (Mundarttheater „ReziBabbel“) hat sich dazu so seine Gedanken gemacht.
Nein, ich bin kein Fußballexperte. Schon alleine deshalb nicht, weil seit fast 50 Jahren Eishockey meine Leidenschaft ist. Eishockey ist schneller, dynamischer, kampfbetonter, unterhaltsamer, härter, atmosphärischer und was weiß ich nicht noch alles. Fragen Sie meinen Sohn. Der bekommt das regelmäßig zu hören, wenn er mal wieder von einem mäßigen Eintracht-Heimspiel aus dem Waldstadion kommt. Irgendwie hat er dann immer nur ein mittleidiges Lächeln für mich. Was er dazu denkt, möchte ich nicht wissen.
Dazu sollte ich vielleicht erklären, dass ich 1968 stolzes Mitglied der Eissportabteilung der Frankfurter Eintracht wurde. Ich trug Trikots mit dem Eintracht-Adler auf der Brust. Das Eintracht-Trikot mit der Nummer 13 hängt noch heute in meinem Arbeitszimmer. Neununddreißig Jahre war ich Eintracht-Mitglied. Allerdings nur neunzehn davon als zahlendes Mitglied, die restlichen Jahre war ich als Eishockey-Schiedsrichter beitragsfrei gestellt. Leider imponiert das alles meinem Sohn heute nicht sonderlich.
Dabei habe ich durchaus auch fußballerische Erfahrungen. Leidenschaftliche Fußballschlachten zwischen den Wäschestangen der Wohnblocks auf der Engelsruhe“, einem Wohngebiet in Unterliederbach. Immer als Eintracht gegen die Großen der Welt. Als Grabowski, Weilbächer, Lindner, Lutz, Kunter, Huberts, Jusufi oder „Atze“ Friedrich liefen wir auf. Im Laden von Willi Huberts kaufte ich meinen ersten Eishockeyhelm, mit Jusufi und „Atze“ Friedrich habe ich sogar mal eine Trainingseinheit am Riederwald bestritten.
Zwei Jahre hintereinander habe ich außerdem bei Pfingstturnieren für eine Freizeitmannschaft gekickt. Im ersten Jahr flog ich schon im ersten Spiel beim Spielstand von 0:5 vom Platz. Nur wegen des kleinen Körperkontaktes gegen den pfeilschnellen Flügelflitzer der Gegenmannschaft. Dabei war ich gar nicht schuld, denn frustriert rief mir mein damaliger Mannschaftskapitän zu „Mario, mach’s wie beim Eishockey!“
Rumms – und der Gegner lag auf der Aschebahn.
Im zweiten Jahr war es etwas erfolgreicher. Ich spielte im Tor, weil niemand wollte. Meine Leistung war sensationell. Drei Spiele gewannen wir, zwei davon zu null. Erst in der Verlängerung des Endspiels unterlief ich einen Eckball und wir wurden zweiter.
Und dann habe ich für die Klassenmannschaft während meiner kurzen Gymnasiumzeit sogar ab und zu ein Tor erzielt.
Aber Fußballexperte bin ich nicht.
Als ich kurz vor der WM 2014 in Brasilien morgens zu meinem Lieblingsbäcker kam, war wieder einmal die Runde der echten Fußballexperten mitten in der Diskussion. Die sind regelmäßig da. Handwerker und Rentner. Meistens montags wird da die ganze Bezirksklasse von Flörsheim bis Zeilsheim durchgenommen. Daneben spielen leider auch die Bayern und natürlich Mainz und Dortmund eine Rolle. Auch die Eintracht kommt vor.
Heute nun ging‘s um Jogi Löws Kader für Brasilien. Ich habe großen Respekt vor diesen Experten. Einige waren wohl selber aktiv, meist bei unterklassigen Fußballmannschaften. Sie kommen also mitten aus dem Fußballalltag, kennen sich aus mit Taktik, Spielpositionen, Spielercharakteren und Mannschaftsaufstellungen. Zumindest der Lautstärke nach. Wahrscheinlich aber auch aus der Praxis der Bezirksliga.
Es ging hoch her. Der Chef der Bäckerei vorneweg. Unmöglich sei dieser Kader, so angeschlagene Leute wie Neuer, Schweinsteiger und Khedira könne man doch unmöglich in diesem Zustand mitnehmen. Und dann der Kroos und der Boateng. Özil sei außer Form und der Klose viel zu alt. Stur sei er, der Löw. So ungefähr hörte es sich an.
Ich halte mich da immer raus, sage nur selten etwas. Denn über Eishockey wird dort nie diskutiert und Fußballexperte bin ich, ich glaube ich sagte es bereits, ja wirklich nicht.
Dass aber die deutsche Nationalmannschaft einen beachtlichen Kader hat, einen wohl sehr kompetenten Stab an Mitarbeitern, vom Fitnesstrainer bis zum Physiotherapeuten, davon war ich bisher immer ausgegangen. Auch dass Jogi Löw stets sehr kompetent und konzentriert wirkt, auch das setzte ich immer voraus. Bisher jedenfalls.
Ich bestellte eine Tasse Kaffee und ein belegtes Brötchen und hörte den Experten zu, bereit zum Lernen. Sie waren erregt und zum Teil sogar sauer wegen Löws Planungen.
In einer Diskussionspause traute ich mich auch etwas zu sagen: „Ich bin mal gespannt, was Ihr alle sagen werdet, wenn die WM rum ist!“
Ruhe im Laden!
Erstaunte Gesichter drehten sich in meine Richtung.
Dann wurde ich aufgeklärt: „Die, die reißen doch gar nix in Brasilien. Wie soll das gehen mit der Truppe. Lachhaft, unmöglich…“ und so weiter.
Nach dem Viertelfinale gegen Frankreich traf ich die Experten wieder im Laden. Interessiert hörte ich zu, wie sie sich nun gegenseitig erklärten, warum das Nationalteam so weit gekommen ist, immer nur gewonnen hat, ihre Einschätzung von vor dem Turnier aber doch richtig war.
Nach dem historischen Brasilien-Spiel hörte ich nur, warum „wir“ am Sonntag Weltmeister werden würden. Das sei doch logisch, mit so einer Mannschaft wie aus einem Guss. Mit solch einem phantastischen Neuer zwischen den Pfosten und dem genialen Mittelfeld mit Schweini und Khedira. Und erst der Klose – und das auf seine alten Tage.
Ich bedaure, dass ich am Montag nach dem Endspiel in Urlaub war. Gern hätte ich mit all den Experten über die Saisonvorbereitungen der Eishockey-Liga diskutiert.
Aber die Meinung zum Ausgang des Endspiels im Maracana hätte mich natürlich auch noch interessiert.
Mario Gesiarz