Student, Milchlieferant, Landwirt
Student, Milchlieferant, Landwirt
90. Geburtstag – Der Krieg zerstörte die Karriere, aber Franz Pickel ist trotzdem ein Glückskind
Wenn Franz Pickel von früher erzählt, ist das wie eine Zeitreise. Der Ur-Sindlinger feierte am Anfang Juni seinen 90. Geburtstag. Er hat Vieles erlebt, was Jüngere nur noch aus den Geschichtsbüchern kennen – oder von Fotos im Kalender des Heimat- und Geschichtsvereins.
Franz Pickel kam am 8. Juni 1928 als Sohn eines Milchhändlers zur Welt und wuchs in der Straße Alt-Sindlingen 15 auf. 1942 schickten die Eltern den Vierzehnjährigen an eine Lehrerbildungsanstalt in der Nähe von Koblenz. „Da war ich ganz auf mich angewiesen“, sagt der Jubilar, „da bin ich selbständig geworden.“
Doch 1944 wurder er zum Reichsarbeitsdienst eingezogen. „Wir haben Panzersperren im Bayerischen Wald gebaut“, berichtet er. Sieben Monate später endete der Krieg. „Ich kam kurz in tschechische Kriegsgefangenschaft, durfte aber schon am 23. Mai 1945 wieder heim“, sagt er: „Ich habe mein Leben lang Glück gehabt.“
Zuhause sah es danach erst mal nicht aus. Zwar hätte Franz Pickel gerne die Lehrerausbildung zu Ende geführt, doch seine Zeugnisse aus der NS-Zeit wurden abgelehnt. Stattdessen riet man ihm, Maurer zu lernen, „weil die Städte alle in Trümmern lagen und das gebraucht wurde“, berichtet er. Nach zwei Jahren absolvierte er die Prüfung und wartete auf einen Studienplatz für ein Ingenieursstudium. Die Zwischenzeit überbrückte er im elterlichen Betrieb. „Da war genug zu tun“, erzählt er.
Seine Eltern betrieben ein Milchgeschäft, das die Sindlinger täglich mit frischer Milch belieferte. „Damals gab es noch keine Kühlschränke. Aber es gab viele Kinder“, erklärt der Senior, warum dieser Dienst so wichtig war.
In der Freizeit spielte Franz Pickel bei der Sportgemeinschaft Sindlingen Fußball. „Nach dem Spielen gingen wir häufig zum Tanz im Mainzer Hof“, erzählt er. Dort fand er in Hedwig Huthmacher eine Gleichgesinnte. Er kannte das Mädchen aus der Nachbarschaft schon seit Kindheitstagen. Franz Pickel half gelegentlich auf den Äckern ihres Vaters Jakob Huthmacher.
Der evangelische Junge und das katholische Mädchen heirateten 1950 in der katholischen Kirche St. Dionysius. Sie lebten im Elternhaus Huthmacher in der Allesinastraße 28. Im gleichen Jahr überschrieb Jakob Huthmacher seinem Schwiegersohn den Hof.
Damit war das Studium passé. „Damals hatten wir noch 36 Landwirtschaften in Sindlingen“; sagt Franz Pickel. Spezialisiert war keiner. Wie alle anderen betrieb er Getreidebau für Brot, Bier und Schweinemast, Kartoffelbau für den Verzehr und die Schweine, pflanzte Klee und Heu für die Pferde und Runkelrüben für die Kühe. Um 1960 herum tat er sich mit zwei benachbarten Landwirten zusammen, um gemeinsam einen großen Mähdrescher zu kaufen. „Das war wie ein Wunderwerk“, sagt er.
Franz Pickel setzte von Anfang an auf Wachstum und Modernisierung. Während andere Höfe, deren Erben im Krieg gefallen waren, aufhörten, pachtete er weitere Flächen hinzu. 1958 baute er seinen Hof um und schuf mit einer großen Halle, Getreidespeicher und neuen Ställen die Voraussetzungen für einen prosperierenden Betrieb. Er kaufte seinen ersten Traktor und trennte sich von den Rindern. Stattdessen standen von nun an sechs Pferde des Reitervereins bei ihm ein. „Damit und mit dem Anbau des Futters war mehr zu verdienen“, sagt er. Hinzu kamen 300 Hühner. Viele Sindlinger kauften bei ihm ihre Eier direkt ab Hof.
Auch privat lief alles bestens. Drei Töchter brachte Hedwig Pickel zur Welt. „Mein Schwiegervater war ein echter Freund. Wir hatten ein wunderbares Familienleben“, sagt Franz Pickel.
Urlaub war nie drin, aber eins ließ er sich nicht nehmen. „Ich war 35 Jahre lang bei jedem Eintracht-Spiel, habe immer auf dem selben Platz gesessen“, sagt er und freut sich über die silberne Nadel, die ihm der Frankfurter Fußballverein verliehen hat.
1993 gab er die Landwirtschaft auf. Mit 65 Jahren wechselte er in den Ruhestand. Die folgenden Jahre holte er mit seiner Frau nach, was zuvor nicht möglich gewesen war. „Wir sind durch ganz Europa gereist“, erzählt er. Die lange gemeinsame Zeit endete 2013 mit Hedwigs Pickels Tod, kurz vor ihrem 88. Geburtstag. Seither lebt Franz Pickel allein, unterstützt von den Töchtern. „Ich kümmere mich um alles, Hof, Scheune und Garten und habe trotz einer Sehschwäche immer etwas zu tun“, sagt er – ein Glückskind eben, das aus allem das Beste macht.