Ein Leben auf dem Rummelplatz

Ehejubiläum

Ein Leben auf dem Rummelplatz

Renate und Wilhelm Stier sind seit 60 Jahren verheiratet

60 Jahre Ehe feierten Renate und Wilhelm Stier Anfang Mai. Die weitaus meiste Zeit davon haben sie auf Rummelplätzen verbracht.
Denn Wilhelm Stier stammt aus einer Schausteller-Dynastie. Schon sein Großvater war mit seiner von Pferden gezogenen hölzernen Bude „auf Reisen“, wie die Schausteller sagen. Auch seine Eltern Wilhelm und Elisabeth betrieben auf allen großen hessischen Volksfesten ihre Schießbude. Bei einer Veranstaltung in der Frankfurter Altstadt 1931 kam Sohn Wilhelm als zweites Kind der Familie im Wohnwagen hinter dem Stand zur Welt. Aufgewachsen ist er im Sommer auf den Festplätzen, im Winter im Ostend. Dort gab es einen städtischen Platz, auf dem die Schausteller außerhalb der Veranstaltungssaison Quartier nehmen konnten.
Prägendes Ereignis seiner Jugendzeit war die Bombardierung Frankfurts. Am 22. März 1945, nach der schrecklichen Bombennacht, überlebte Willy Stier als Dreizehnjähriger das folgende Tagesbombardement im Keller der Großmarkthalle.
Auch Renate Stier, geborene Till, hat der Krieg geprägt. Ihre Familie, die in Königsberg lebte, verlor damals alles. Mit einem Schiff über die Ostsee retteten sich die Frauen in den Westen. „Wir hatten nur noch, was wir am Leib trugen“, berichtet sie. Ihr Vater war eins der ersten Kriegsopfer im August 1939 gewesen, ihre vier Brüder aber überlebten den Krieg. Bei einem kamen Renate Till und ihre Mutter unter. Ein anderer lebte in Frankfurt. Er heiratete 1948 Wilhelm Stiers Schwester. Als die fünfzehnjährige Renate den Bruder besuchte, sie Wilhelm Stier kennen. „Es hat sofort gefunkt“, sagen die beiden. Familie Stier vermittelte die junge Frau, die gerade mit der Schule fertig war, zu einer Verwandten als Helferin in der Landwirtschaft nach Ingelheim. Von da aus radelte sie, wann es immer es ging, zu den Volksfesten der Umgebung, um Willy zu besuchen, der in der elterlichen Schießbude arbeitete. Kaum ein Jahr später blieb Renate Till dann ganz bei den „Reisenden“ und arbeitete mit. Vier Jahre später, kurz vor ihrem 20. Geburtstag, heirateten die beiden im Römer.
Wenig später machten sich die beiden selbständig. Sie betrieben eine Schießbude, ein Kettenkarussell, von 1959 bis 1963 sogar eine Benzinautobahn, einen Vorläufer der beliebten Go-Cart-Bahn. Danach ließen sich sich eine zwölf Meter lange Schießbude bauen, außerdem betrieben sie einen Imbiss. Mit einer eigenen Zugmaschine schleppten sie die Teile von Fest zu Fest, übernahmen auch Transporte für Kollegen. „Es gab immer einen guten Zusammenhalt“, sagt Willy Stier. Er engagierte er sich im Frankfurter Schaustellerverband, arbeitete dort mehr als 20 Jahre lang ehrenamtlich als zweiter Vorsitzender.
Nach der Schließung des Winterquartiers im Ostend bot die Stadt den Schaustellern 1966 eine Fläche in Sindlingen an. Stiers mieteten eine der 19 Parzellen. Ihre Kinder Brigitte, Susanne und die Zwillinge Angela und Patricia gingen alle in die Meister-Schule. 1971 kaufte die Familie ein Haus in Sindlingen. Dorthin fuhr Renate Stier nun jeden Abend zurück – gleich, ob ihr Stand in Frankfurt, Schlüchtern oder Bingen stand. Willy Stier dagegen blieb über Nacht auf den Plätzen.
Erst vor sieben Jahren haben die beiden die Schaustellerei weitgehend aufgegeben. Von ihren Töchtern wollte keine den Betrieb weiterführen. Willy Stier (28 Jahre) findet das schade, schließlich endet damit eine Familientradition. Renate Stier (79) dagegen ist froh, dass sich ihre Kinder nicht auf dieses aufreibende Leben eingelassen haben. Sie und ihr Mann hängen immer noch daran. Auf dem Frankfurter Weihnachtsmarkt werden sie auch dieses Jahr wieder Dampf- und Backspezialitäten verkaufen. Außerdem verwaltet Willy Stier ehrenamtlich das Sindlinger Winterquartier und engagiert sich im Ältestenrat des Schaustellerverbands. Die diamantene Hochzeit feierte das Paar im Kreis der Familie. hn

Seit 60 Jahren verheiratet: Renate und Wilhelm Stier feierten Anfang Mai ihre diamantene Hochzeit. Foto: Michael Sittig

Seit 60 Jahren verheiratet: Renate und Wilhelm Stier feierten Anfang Mai ihre diamantene Hochzeit. Foto: Michael Sittig