Schüler schlichten ihren Streit jetzt selbst
Schüler schlichten ihren Streit jetzt selbst
Ludwig-Weber-Schule Im „Klassenrat“ werden demokratische Tugenden geübt – Zuhören und Perspektivwechsel als Mittel der Konfliktlösung
Streiten will gelernt sein. Meinungsverschiedenheiten in einem vernünftigen und respektvollen Umgang miteinander beizulegen, ist eine Grundlage der zivilisierten Gesellschaft. Doch diese Fähigkeit scheint mehr und mehr ins Hintertreffen zu geraten. Stattdessen herrschen häufig Aggression und Gewalt vor, auf der Straße wie auf dem Schulhof.
Die Ludwig-Weber-Schule begegnet dem mit dem Projekt „Einführung und Etablierung eines Klassenrats in den Jahrgängen Zwei bis Vier“. Damit bewirbt sie sich auch um den Frankfurter Schulpreis 2018.
Nun ist es nicht so, dass sich alle Schüler ständig hauen würden. Aber durch Abriss und Neubau des alten Schulgebäudes ist der Pausenhof kleiner geworden. Mit der Enge stieg die Zahl der Konflikte, sagt der stellvertretende Schulleiter Martin Stojan. Das Streitschlichten frisst viel Unterrichtszeit und kostet Nerven. Deshalb lernen die Zweit- bis Viertklässler nun, ihre Streitereien im Klassenrat selbst zu bereinigen
Fiktiver Fall um einen Farbkasten
Die Klasse 2a des Konrektors demonstriert anhand eines fiktiven Falles, wie das vor sich geht. Die 18 Schüler bilden einen Stuhlkreis, dann werden Aufgaben verteilt. Inas ist Präsidentin, Milena Protokollantin, Nasim Zeitnehmer und Siyar Regelwächter. „Ich passe auf, dass niemand unterbricht oder den anderen beschimpft“, sagt Siyar. Nasim achtet darauf, dass die Zeitvorgabe von 15 Minuten eingehalten wird. Inas leitet die Sitzung, deren Ablauf an einer Stellwand vorgegeben ist. Der angenommene Streitfall: Safaa muss eine Mathearbeit nachschreiben. Ihre Klasse hat derweil Kunstunterricht. Latifa hat ihren Wasserfarbkasten vergessen und nimmt sich den von Safaa. Sie lässt ihn schmutzig zurück. Darüber beschwert sich Safaa.
Die Präsidentin hört sich an, was beide Parteien zu dem Vorfall zu sagen haben. „Ich wollte es nicht, aber wenn man malt, wird der Kasten einfach schmutzig“, sagt Latifa. „Sie hat nicht gefragt, sondern ihn einfach genommen“, ärgert sich Sanaa. „Es tut mir leid“, sagt Latifa. Inas fasst die Stellungnahmen zusammen und fragt nach Ideen und Vorschlägen, wie der Streit behoben werden könnte. „Latifa muss den Kasten saubermachen oder, wenn das nicht geht, einen neuen kaufen“, schlägt ein Schüler vor. Damit können beide Mädchen leben. Handschlag drauf, und am Ende unterschreiben sie auch das Protokoll der Sitzung, das Milena anfertigt.
Sollte es in dieser Phase nicht zu einer Einigung kommen, sieht der Ablauf einen Perspektivwechsel vor. Dann soll jedes Mädchen den Streit aus der Sicht der Gegnerin schildern und wie es ihr dabei erging. Dabei erkennen die Kontrahenten in der Regel, dass sich beide nicht wohlfühlen in ihrer Haut. In den meisten Fällen findet sich dann eine gemeinsame Lösung.
„Durch den Klassenrat werden im Laufe der Zeit Zuhören, Ich-Botschaften, Empathie, Toleranz und das Erkennen, dass es auch andere Sichtweisen geben kann, gelernt“, führt der stellvertretende Schulleiter aus.
In der Runde können aber auch positive Dinge besprochen werden. Die Schüler haben Mitspracherecht bei der Gestaltung von Ausflügen, Klassenfahrten und weiteren Veranstaltungen. In den Eingangsklassen erhalten sie etwa einmal pro Woche eine Stunde soziales Lernen als Vorbereitung auf den Klassenrat.
In der 2a können die Schüler seit den Herbstferien Beschwerden in einer Liste eintragen, die in den Sitzungen als Grundlage dient. Alle zwei Wochen tagt der Klassenrat und übt die eigenständige Konfliktlösung. Manches hat sich bis dahin schon selbst erledigt, anderes nicht. Die „Ämter“ wechseln von Fall zu Fall, so dass jeder mal leitet, schreibt oder aufpasst. Die Protokolle sammeln die Schüler in einem Ringbuch. Die Weber-Schule reicht sie als Teil der Dokumentation ein, mit der sie sich um den Frankfurter Schulpreis 2018 bewirbt.
Schon jetzt zeigt sich, dass der Klassenrat funktioniert. „Vor kurzem haben die Schüler einen Fall völlig selbstständig gelöst, ohne dass ich eingreifen musste“, sagt Martin Stojan: „Es gibt nachvollziehbar weniger Streit in der Pause. Und es müssen weniger Benachrichtigungen an die Eltern wegen Verstößen gegen die Schulvorschriften geschrieben werden. Es fruchtet“. Auch den Zweitklässlern ist das aufgefallen. „Jaaa“, sagen sie einhellig auf die Frage, ob es weniger Streit gibt. Präsidentin Inas hat allerdings auch schon beobachtet, dass es Unterschiede gibt: „Manche können sich ändern, manche nicht“. hn
Projekte aus der Praxis
Schulpreis Einmischung erwünscht
Unter dem Motto „Schule lebt Demokratie“ hat Schuldezernentin Sylvia Weber zusammen mit der Bildungsstätte Anne Frank den neu konzipierten Frankfurter Schulpreis ausgeschrieben. Er knüpft an die Tradition des Friedenspreises für Frankfurter Schulen an und richtet sich an alle Schulformen und Bildungsgänge. Gesucht werden Projektideen zur Förderung einer inklusiven Schulkultur, zur Stärkung der Partizipation von Schülerinnen und Schülern, zur Förderung von gesellschaftlicher Teilhabe sowie zur Umsetzung von Themen wie demokratisches Handeln, Gleichberechtigung, Vielfalt und Toleranz. „Entwickelt werden sollen Projekte aus dem Alltag von Schule und Jugendhilfe in der Schule – insbesondere Aktivitäten, die eigenverantwortliches Handeln der Schülerinnen und Schüler ermöglichen. Junge Menschen sollen sich kreativ, engagiert und alltagsnah in unsere Demokratie einmischen, Verantwortung übernehmen und dabei demokratische Werte erhalten und gestalten“, heißt es in der Ausschreibung. Die Ludwig-Weber-Schule gehört zu zehn ausgewählten Teilnehmern. Das Projekt läuft noch bis April, anschließend wählt eine Jury die drei besten Projekte aus. Am Anne-Frank-Tag am 12. Juni werden alle zehn Projekte in der Paulskirche präsentiert und die drei Besten prämiert.