Als der Hammel den Esel gab

Kerb

Als der Hammel den Esel gab

50 Jahre danach: Treffen der Kerbeborsch von 1962

An ihrem Hammel hatte die Kerbeborsch 1962 wenig Freude. Er wollte partout nicht beim Umzug mitlaufen. „Störrisch wie ein Esel war er“, erinnert sich Hans-Josef „Jupp“ Riegelbeck. Irgendwie schafften es die Kerbeborsch immerhin, ihn fürs Foto an den Dalles zu schaffen.
Kerbehammel, Kerbebaum, Kerbetanz und Kerbeumzug: Das alles gab es noch vor 50 Jahren in Sindlingen. 22 junge Männer der Geburtsjahrgänge 1943/44 stemmten die Kerb 1962. Im Herbst 2012 haben sie sich im „Loch“ (Zur Mainlust) wieder getroffen. „Sieben sind verstorben, einer hat abgesagt, zehn kamen, nur vier haben sich gar nicht gemeldet“, berichtet Edgar Schneider, der das Treffen organisiert hat. Keine schlechte Quote, 50 Jahre danach. Einige hatten sogar ihre blauen Kappen und Schärpen mit den weißen Sternen dabei. „Kerbeborsch sind lust’ge Brüder, haben frohen Mut; singen lauter lust’ge Lieder, sind ja allen Mädels gut“, sangen sie, wie Generationen von Kerbeborsch vor ihnen, einst und jetzt.
Das Lied war nicht das einzige, das die jungen Männer ab Herbst 1961 bei ihren monatlichen Treffen übten. Die Kerb war, zusammen mit Fastnacht, von alters her das einzige größere Fest im Ort. Für viele junge Männer war es selbstverständlich, dabei zu sein. „Es war Tradition in Sindlingen, wir sind damit groß geworden“, sagt Schneider. „Wir hatten den Wunsch, das zu machen“, sagt Riegelbeck. Ab Oktober 1961 fungierten die Jugendlichen des Jahrgangs 43/44 als Vize-Kerbeborsch. „Wir waren sozusagen die Lehrbuben der Kerbeborsch“, berichten die heutigen Altkerbeburschen. Sie trugen schon Kappen, aber noch keine Schärpen, und beim Umzug war ihr Wagen der letzte. Während die Kerbeborsch sich um alles kümmerten, sahen sie nur zu. „Das war schön, wir hatten keine Arbeit“, schmunzelt Schneider.
Die begann wenig später. Zunächst galt es, alles zu organisieren und die Kasse zu füllen. Das geschah durch Beiträge und die „Kerwe-Zeitung der Sindlinger Kerweborsch“ (Kerb oder Kerwe? Da scheiden sich die Geister, sagen die Altkerbeborsch). Alle Sindlinger Geschäftsleute inserierten darin. „Damals war das Gemeinschaftsgefühl viel stärker. Wir hatten viel Unterstützung“, berichten Riegelbeck und Schneider. Mit dem Geld bezahlten die Burschen die Kapellen für Kerbetanz und Umzug, Genehmigungen, Versicherungen sowie den Kerbebaum. Den holten sie am Kerbesamstag, dem 13. Oktober 1962, morgens früh um 7 Uhr selbst aus dem Stadtwald. „Wir haben ihn mit der Kelsterbacher Fähre übergesetzt, auf einem verlängerten Leiterwagen hochgezogen zur Okrifteler Straße und anschließend durch die Allesinastraße und den Mainberg hinunter ans Mainufer gebracht“, erzählen die Männer. Ursprünglich stand der Baum immer vor dem Kerbelokal, doch irgendwann Ende der 50-er Jahre war das nicht mehr erlaubt, deshalb wichen die Kerbeborsch auf den Kerbeplatz am Mainufer aus. Dort wurde er mit einem Kranz und der überlebensgroßen Kerbepuppe „Hannes“ geschmückt und mit Muskelkraft aufgerichtet. „Der Hannes erlitt ein fürchterliches Schicksal“, sagt Schneider: „Er wurde verbrannt“.
Bis es soweit war, hatten die jungen Männer aber einige tolle Tage vor sich. Abends richteten sie den Kerbetanz im „Frankfurter Hof“ aus. Am Sonntag warfen sie die Sindlinger mit einem Weckruf früh um 6.30 Uhr aus den Betten. Am frühen Nachmittag versammelten sie sich am Paul-Kirchhof-Platz und zogen durch den ganzen Ort. „Beim Kerbeumzug wurde an jeden, der wollte, Apfelwein ausgeschenkt“, erzählt Riegelbeck. Auf den Wagen lagen die Apfelweinfässer, und „wir liefen mit Bembeln herum“, sagt Schneider. Abends war wieder Kerbetanz. Der Montag danach galt als halber Feiertag. Sindlinger Handwerker und ihre Gesellen verbrachten ihn wie viele andere beim Frühschoppen in den Lokalen. Eine Woche später ging es bei der Nachkerb nochmal rund. Doch am Tag danach war endgültig Schluss. In Frack und Zylinder, mit Fackeln in den Händen, zogen die Kerbeborsch durch den Ort, um den „Hannes“ zu verbrennen und die Kerb zu beerdigen.
Danach saßen sie gemütlich beisammen – wie auch jetzt wieder, 50 Jahre später. hn

Was weiterlebt

Die Vize-Kerbeborsch der 43/44-er, die die Kerb 1963 durchführten, waren die letzten ihrer Art. Danach erlosch die Tradition. Der mit der Kerb verbundene Rummel hielt sich noch einige Jahre länger, erst am Mainufer, dann am Sportplatz. Heute gibt es keine Kerb mehr in Sindlingen. Allerdings verbindet die katholische Gemeinde ihr Kirchweihfest im Oktober mit der Wahl des Apfelweinkönigs – und bewahrt mit diesem feucht-fröhlichen Abend Teile der Tradition. hn

Wie einst im Oktober: Die Kerbeborsch von 1962 trafen sich vor kurzem wieder; einige hatten sogar noch die Kappen und Schärpen von damals dabei. Foto: Michael Sittig

Wie einst im Oktober: Die Kerbeborsch von 1962 trafen sich vor kurzem wieder; einige hatten sogar noch die Kappen und Schärpen von damals dabei. Foto: Michael Sittig

 

Heute im Festanzug: Jupp Riegelbeck (links) und Edgar Schneider. Foto: Michael Sittig

Heute im Festanzug: Jupp Riegelbeck (links) und Edgar Schneider. Foto: Michael Sittig