Ein Leben in Sindlingen

Jubiläum

Ein Leben in Sindlingen

Ellen Schreiber feierte 90. Geburtstag

Was anderswo mit öffentlichen Mitteln als Projekt gefördert wird, ist in der Pfingstbornstraße Alltag: das Zusammenleben mehrerer Generationen. Die älteste Generation vertritt Eleonore Schreiber, genannt Ellen. Sie feierte im Mai ihren 90. Geburtstag, zusammen mit Tochter und Schwiegersohn, zwei Enkeln und zwei Urenkeln.
Enkel Ralf Rößler, seine Frau Stephanie und die beiden Söhne leben im Erdgeschoss, die Eltern Traute und Ferdi Rößler im ersten Stock und Oma Ellen noch eine Etage höher. Die Treppen machen ihr nichts aus. „Das hält mich beweglich“, sagt die 90-Jährige.
Dank der Familie wird ihr nie langweilig. „Bei uns ist immer Action“, lächelt Traute Rößler. Alle sind eingebunden, auch Ellen Schreiber. „Morgens komme ich zum Kaffeetrinken in den ersten Stock runter“, sagt sie, ebenso mittags zum Essen. Danach spült sie, was nicht in die Spülmaschine geräumt wird, und Traute Rößler trocknet ab – ein eingespieltes Team seit Jahrzehnten.
Gebaut haben das Haus in der Pfingstbornstraße Ellen Schreibers Großeltern Wagner. Bezogen wurde es 1906. Deren Tochter Therese heiratete den Schlosser Christian Ottermann, und 1923 kam Ellen zur Welt. Es war eine Hausgeburt, wie auch später ihre eigene Tochter Traute im Elternhaus entbunden wurde. Die kleine Ellen besuchte die Meisterschule, danach die Handelsschule in Frankfurt. Anschließend ging sie bei Juwelier Buchwald in Höchst in die kaufmännische Lehre und arbeitete als Verkäuferin. „Dann kam der Krieg“, sagt Ellen Schreiber. Sie wurde für einen Arbeitseinsatz in Eckernförde dienstverpflichtet. „Ich wollte nicht in den Arbeitsdienst“, sagt sie. Tatsächlich gelang es ihr, sich zu entziehen: „Am 1. April sollte ich dorthin, am 29. März habe ich geheiratet, obwohl ich eigentlich mit 18 noch ein bisschen jung dafür war“. Aber „wir hätten sowieso geheiratet“, sagt sie über ihren Mann Franz Schreiber. Der Bauernsohn aus der Huthmacherstraße war damals 26 und in der Armee; er bekam extra zwei Wochen Heiratsurlaub.
Ende 1945 kehrte er unversehrt aus französischer Kriegsgefangenschaft zurück. Er fand Arbeit als Kraftfahrer, anfangs bei den US-Amerikanern, später in den Farbwerken. Gemeinsam überstanden sie die schwierige Nachkriegszeit. „Das war schlimmer als der Krieg, denn es gab nichts“, findet Ellen Schreiber. Mit Lebensmittelkarten und mit Hilfe der bäuerlichen Verwandtschaft überstanden sie die mageren Jahre. Dann ging es aufwärts. 1949 kam Tochter Traute zur Welt. „Ich habe für sie immer frische Milch beim Bauern geholt“, erinnert sich die Jubilarin. In den 50-er Jahren half Ellen Schreiber bei ihrem Onkel, einem Orthopädiemechanikermeister, im Laden an der Farbenstraße aus. 1956 freute sich die Familie über ihr erstes Auto, einen blauen VW-Käfer. Mit dem fuhren Schreibers bis 1971 auch in den Urlaub, immer gen Süden, aber nie über die Landesgrenze hinaus. 1971 aber heiratete Tochter Traute einen Österreicher, der in den Farbwerken Arbeit gefunden hatte. Von da an hieß das Urlaubsziel in den Ferien stets Kärnten.
Auch nachdem ihr Mann 1979 verstorben war, begleitete Ellen Schreiber ihre Kinder und Enkel regelmäßig dorthin. Heute allerdings ist ihr die lange Fahrt zu beschwerlich. Lieber erledigt sie gleich nach dem Frühstück ihre Einkäufe oder geht spazieren. „Am liebsten bin ich so früh wie möglich unterwegs, dann ist alles noch so schön still“, sagt sie. Im Vergleich zu früher ist Sindlingen vor allem „größer geworden“, findet sie. In ihren Jugendjahren gab es noch keinen Kreisel, keine Farbwerksmauer, keine geteerten Straßen. Jenseits der alten Mainzer Landstraße stand nur ein Haus, der Rest war Feld. In der Villenkolonie am Ende der Gustavsallee wohnten „die Doktoren von den Farbwerken“. Ihr Vater sang bei der „Meenzer Hofgesellschaft“, den Sängern, die sich im Mainzer Hof am Dalles trafen. „Jeder kannte jeden“, sagt sie.
Längst sind Freunde und Jahrgangskameraden verstorben. Doch Ellen Schreiber beschwert sich nicht. „Ich bin sehr zufrieden. Ich habe einen wunderschönen Lebensabend“, findet sie, „einen solchen wünsche ich jedem“. hn

Socken strickt Ellen Schreiber am liebsten, hier mit Enkel Ben. Am 13. Mai feierte sie ihren 90. Geburtstag. Foto: Michael Sittig

Socken strickt Ellen Schreiber am liebsten, hier mit Enkel Ben. Am 13. Mai feierte sie ihren 90. Geburtstag. Foto: Michael Sittig