Fragen an Konstantin Sacher

Sehr geehrter Herr Sacher,
die Idee, sich als angehender Pfarrer in einer Kolumne mit Alltagssituationen auseinander zu setzen, finde ich wirklich gut.
Eine, mit der man in der Frankfurter Innenstadt konfrontiert wird, bezieht sich auf die vielen Bettler. Manche sind wirklich arm dran, wirken gebrechlich. Da fällt es leicht, den einen oder anderen Euro zu geben. Es gibt allerdings auch Leute, noch recht jung, manchmal mit großem Hund, die da herum sitzen und ebenfalls auf das Mitleid der Bürger hoffen. Da habe ich so meine Probleme, gehe weiter und komme ins Grübeln. Der oder die könnten sich doch aufraffen und ein bisschen was tun, denke ich dann. Manche Frauen haben Kinder dabei, um die Spendenbereitschaft zu erhöhen. Man schaut nicht so genau hin, geht weiter, wieder dieser Zweifel.
Wie geht es Ihnen bei solchen Begegnungen, Herr Sacher?

Hans-Joachim Schulz

 

Lieber Herr Schulz,

bei Ihrer Frage ist mir eine Geschichte eingefallen, die ich einmal gelesen habe: Ein Mann hat seinen Job verloren. Er hat es aber niemandem gesagt. Nicht einmal seiner Frau. Jeden Morgen ist er aufgestanden, hat sich seinen Anzug und seine Krawatte angezogen und ist aus dem Haus gegangen. Er ist den ganzen Tag durch die Gegend gelaufen und abends, zu seiner üblichen Zeit, ist er dann wieder nachhause gekommen. Das hat er monatelang so gemacht. Bis die Familie völlig pleite war. Erst als es kein Geld mehr gab, um Essen zu kaufen, konnte er es nicht mehr verstecken.
Ich finde, die Geschichte zeigt eines: Nämlich, dass wir Leid nicht sehen können. Der Mann, er hat sicher sehr gelitten. Und er war so pleite, dass er nicht einmal mehr Essen kaufen konnte. Aber er trug einen Anzug, eine Krawatte. Er hat den Schein gewahrt. Niemand wäre auf die Idee gekommen, ihm etwas Kleingeld zuzuwerfen. Dabei hätte er es sicher brauchen können.
Ein Mensch, der auf der Straße sitzt und bettelt, wird einen Grund dazu haben. Wie schlimm es ihm geht, ob er eigentlich arbeiten könnte und nur zu faul ist, oder ob er nicht arbeiten kann, weil er krank ist, das wissen wir nicht. Aber wir wissen, dass er dort sitzt und um etwas Kleingeld bittet. Wenn ein Mensch um etwas bittet, was wir sehr leicht erfüllen können, dann sollten wir versuchen, ihm seine Bitte zu erfüllen.

Das ist die eine Seite.

Aber ich kenne das Gefühl, von dem Sie, Herr Schulz, schreiben, selbst. Mir geht es manchmal so ähnlich, wenn ich von der Meisterschule zum Pfarrbüro laufe und durch die Grünanlage an der Hermann-Brill-Straße gehe. Dort sitzen am helllichten Tag Menschen und trinken, während die Kinder aus der Schule nachhause gehen. Dann denke ich auch manchmal: Die sitzen hier und machen nichts außer Saufen. Es gibt so viel, in Sindlingen, in Frankfurt, in Deutschland, was gemacht werden muss. Warum packen die nicht an?
Doch später, wenn ich am Pfarrbüro angekommen bin, dann gehe ich meistens zuerst in die Kirche. Dort setze ich mich in den stillen Raum und bete. Und wenn ich dort sitze, ganz still, alleine mit Gott, dann denke ich: Woher soll ich wissen, wie es diesen Menschen wirklich geht? Was bilde ich mir ein, beurteilen zu können, ob diese Menschen arbeiten können oder nicht. Die saufen bestimmt nicht den ganzen Tag, weil es ihnen soviel Spaß macht. Wahrscheinlich würden sie auch lieber Arbeit haben.
Ich denke, es gibt diese beiden Seiten in uns. Die eine, die weiß, dass wir nicht wissen, warum ein Mensch bettelt oder säuft. Und die andere Seite, die sagt: Aber wenn er sich nur zusammen reißen würde! Beide Seiten sind wichtig, denn die eine Seite lässt uns helfen und die andere Seite lässt uns nicht einfach untätig und gleichgültig werden. Sie hilft uns, uns weiter aufzuregen. Und das ist auch nötig. Denn ohne ehrlich gemeinte Aufregung auch keine Veränderung.

Ihr Konstantin Sacher