Die Sindlinger und ihre Rotfabrik

Heimat- und Geschichtsverein

Die Sindlinger und ihre Rotfabrik

150 Jahre Farbwerke – Bildervortrag über eine zwiespältige Nachbarschaft

150 Jahre Farbwerke – Haben wir als Sindlinger etwas damit zu tun? „Wenn nicht wir, wer dann?“, fragt Dieter Frank, Vorsitzender des Heimat- und Geschichtsvereins. Seit vielen Jahrzehnten beeinflussen die Farbwerke Sindlingen – im Guten wie im Schlechten und zu einem guten Teil auf Sindlinger Gemarkung: die Jahrhunderthalle steht darauf, und der hohe, bunte Schornstein in der Nähe des Tor Wests ist, von den Gemarkungsgrenzen her gesehen, Sindlingens höchstes Gebäude. Karlheinz Tratt, Archivar des Geschichtsvereins, legte etwa 70 Zuschauern im Saal des evangelischen Gemeindehauses das zwiespältige Verhältnis der Sindlinger zum großen Nachbarn anhand vieler Fotos, Skizzen und Gemälde dar: „Die Sindlinger und ihre Rotfabrik“.
Ursprünglich sollte sein Vortrag „Fluch oder Segen?“ heißen. Für beides gibt es gute Gründe. Die „Chemische“ rückte Sindlingen im Wortsinn auf die Pelle. War das erste Firmengebäude von Meister, Lucius und Brüning 1863 mit seinem einzelnen Schornstein noch unmittelbar neben dem Höchster Schloss angesiedelt (gegenüber des Bismarck-Denkmals – etwa da, wo gerade das MKW-Verwaltungsgebäude abgerissen wurde), zog die stetig wachsende Fabrik 1869 weiter nach Westen, auf die andere Seite des noch unverrohrten Liederbachs. Fast bis an die Sindlinger Gemarkungsgrenze reichten die Gebäude – aber eben nur fast. Erst in den 90-er Jahren des 19. Jahrhunderts entstanden erste Anlagen auf Flächen, die zu Sindlingen gehörten. Im so genannten „Heilserum“ wurden Impfstoffe aus Pferden entwickelt. Die Anlage bestand neben dem Labor aus Reitställen, einem Krankenstall, einer überdachten Reithalle, einem Auslauf und einer Verbrennungsanlage.
Das Werk wuchs unaufhörlich. Aus vier, acht, zwölf Schloten qualmte es, wie zeitgenössische Zeichner im Bild festhielten. 1927 prägte bereits eine riesige Anzahl Schornsteine das Bild. Im Norden des Werksgeländes entstand der große Düngemittelsilo, der lange Jahre den Schriftzug „Farbwerke Hoechst AG“, später nur noch „Hoechst AG“ trug. „Da waren die ‚Farbwerke‘ schon weg“, kommentierte ein Besucher das entsprechende Foto.
In den 20-er Jahren türmten sich Berge von Kohle entlang der alten Mainzer Landstraße auf. Die Allee verband Sindlingen und Höchst und führte mitten durch das Werk. Auf dem Main lagen Schiffe in Dreierreihen und warteten darauf, dass ihre schwarze Fracht entladen wurde. Loren und Kräne transportierten die Kohle zum Lager oder direkt zum Verkoken. Ein gewaltiges Schienennetz für Dampfeisenbahnen und Schmalspurbahnen durchzog das Werksgelände. Die Farbwerke Hoechst AG waren zur Weltfirma aufgestiegen, mit zahlreichen Niederlassungen und Zweigwerken. Peter Behrens verhalf ihr von 1920 bis 1924 zu einem repräsentativen Bau, der in Form des Logos „Turm und Brücke“ bald weltweit für Farben, Arzneien, Pflanzenschutzmittel, Kunststoffe und weitere chemische Produkte von Hoechst stehen sollte.
Die Brücke überspannte die alte Mainzer Landstraße. 1945 marschierten US-Soldaten unter ihr hindurch. „Wir hatten hier in Sindlingen alle Angst, dass die Alliierten die Farbwerke wegblasen – Dann wäre auch von uns nichts geblieben“, erinnerte sich Tratt. Doch die späteren Sieger planten schon früh, das Werk zu erhalten. Keine Bombe fiel darauf, und auch Sindlingen blieb weitgehend ungeschoren.
Zehn Jahre später füllte sich die Straße zum Arbeitsbeginn wieder mit vielen tausend Menschen, die hier sichere Arbeitsplätze hatten. Das von neuem prosperierende Werk mutete seinen Nachbarn aber auch allerhand zu. Vor allem der „Koker“ war eine Dreckschleuder par excellence. „Der machte uns hier in Sindlingen viele Sorgen“, sagte Tratt. Nicht nur der Gestank, sondern auch die plötzliche, grelle Helligkeit in der Nacht, wenn 30 Meter hohe Flammen aus dem Turm schlugen, beeinträchtigte die Nachbarschaft. Ältere erinnerten sich auch noch an die „gelbe Fahne“, den stinkenden gelben Qualm aus einem hohen Schornstein, der charakteristisch war, und daran, dass Bauern sich Klärschlamm abholten, um ihn auf den Feldern zu verteilen. 1961 brannte ein Silo an der Farbenstraße. Es war ein furchterregender Anblick, demonstrierte Tratt anhand von Fotos, die eine gewaltige rosa Qualmwolke zeigten. „Gott sei Dank war Westwind, es zog alles nach Höchst“, sagte er.
Erst in den 80-er Jahren, als Umweltschutz Thema wurde, rangen Aktivisten dem mächtigen Konzern und der Politik nach und nach Umweltauflagen ab. Der erhitzte, verdreckte, in den 60-er Jahren nahezu tote Main wurde sauberer, die Luft besser. Doch noch immer beeinträchtigt das Werk Sindlingen. Seien es die Verbrennungsanlagen, die Bio-Anlagen oder die Kläranlagen: „Bei Ostwind ziehen unangenehme Gerüche hierher, vor allem in den Lachgraben“, sagte Frank. Aufgrund der Seveso-Richtlinie behindert das Werk auch die Siedlungsentwicklung. Wegen der Nähe zu den chemischen Anlagen darf kein Neubaugebiet ausgewiesen werden.
Auf der anderen Seite stehen viele positive Aspekte. Schon die Gründer legten Wert auf soziale Leistungen. Schon 1888 entstanden mit „Seeacker“ und „Mainfeld“ erste Siedlungen für die Arbeiter. 1913 folgte die Zeilsheimer „Colonie“. Herbert von Meister, der den einstigen Landsitz der Familien Allesina und Brentano in Sindlingen 1904 nach seinen Vorstellungen umbauen ließ, förderte den Bau der evangelischen Kirche sowie der Grundschule, die seinen Namen trägt, spendierte die Turnhalle und vieles mehr. Für die Arbeiter im Werk gab es Frühstücksräume, Kantinen, ab 1900 sogar ein Wöchnerinnenheim („Asyl“) am Seeacker und weitere soziale Leistungen. Vor allem gab es Sicherheit. „Die Menschen hatten, anders als Tagelöhner, sichere und gute Einkommen“, sagte Tratt. Sie konnten sich sogar Häuser bauen. Sindlingen erlebte Anfang des 20. Jahrhunderts einen regelrechten Bauboom. Noch heute erinnern viele gründerzeitliche Backsteinbauten an jene Jahre. 21 Schmuckstücke des Jugendstils allerdings gingen verloren. In der Verlängerung der Gustavsallee, hinter der heutigen Werksmauer und dem damals noch unverrohrten Lachgraben, bauten die Farbwerke Villen für ihre leitenden Angestellten. Nur wenige Fotos und ein paar Gemälde des Malers Sieglitz von 1946 sind davon geblieben. Denn 1955/56 wurde die Villenkolonie seitens der Fabrik plattgemacht. „Ein herber Verlust für die Bausubstanz in Sindlingen“, bedauert der Geschichtsverein. Statt der schmucken Häuschen zog sich nun eine Schallschutzwand quer über die Sichtachse Richtung Höchst. Die alte Mainzer Landstraße wurde Mitte der 50-er Jahre geschlossen. Seither führt der Weg nach Höchst auf der Farbenstraße ums Nordwerk herum. hn