Stoltze und seine jüdischen Nachbarn
Stoltze und seine jüdischen Nachbarn
Mundart Großer Andrang bei Rezi*Babbel in der Orangerie
Er trägt zwar keinen „Hambacher Backenbart“, aber als „aaler Frankforder“ und „guuder Demokrad“ ist Fabian Sebastian Hampelmann gut Freund mit Friedrich Stoltze (1816 – 1891). Mario Gesiarz verkörperte Hampelmann beim Benefiz-Mundartnachmittag in der Orangerie.
An die 100 Besucher wollten ihm und Sohn Viktor Gesiarz alias „Rezi*Babbel“ zuhören. So viele passen beim besten Willen nicht in den früheren Wintergarten der Villa Meister. Mitarbeiter der Fachklinik Villa unter den Linden holten Klappstühle herbei und stellten sie auf der Terrasse auf. Dank der frühlingshaften Temperaturen konnten die Gäste den Anekdoten, Gedichten und Schmonzetten sowie den Klezmer-Liedern bequem auch im Freien folgen.
Mario Gesiarz flocht zwischen die Mundartstücke immer wieder zeitgeschichtliche Erklärungen ein. Den „Hambacher Backenbart“ zum Beispiel trugen freiheitsliebende Männer. Es war ein Erkennungszeichen für eine bestimmte Gesinnung, ähnlich wie viele Jahre später in den 68-ern die langen Haare.
Schwerpunkt des Programms mit dem Titel „Kooscher hie un kooscher her“ (Eine Zeile aus dem Gedicht „Des alte Casino uffm Roßmarkt“) waren Stoltzes jüdische Nachbarn im alten Frankfurt. Mario Gesiarz zitierte witzige, zutiefst menschliche Anekdoten aus dem jüdischen Milieu, aber auch engagierte satirische Texte gegen den neu aufkeimenden Antisemitismus der 1880er Jahre. In Frankfurt gab es im 19. Jahrhundert eine der bedeutendsten jüdischen Gemeinden in Europa, durch Stoltze ist ein kleines Stück davon lebendig geblieben.
In Mundart erfuhren die Zuschauer einiges über das Leben und den Alltag im Ghetto der Judengasse. Ludwig Börne,1786 als Löb Baruch in der Frankfurter Judengasse geboren, war Stoltzes literarisches Vorbild. Dem Erfinder des modernen Feuilletons widmete der Frankfurter Journalist und Mundartdichter zahlreiche Gedichte. Über den Bankier Meyer Amschel Rothschild erfuhren die Zuhörer vor allem die skurrile Geschichte des ersten Aufeinandertreffens der beiden.
Dass Friedrich Stoltze ein hervorragender politischer Satiriker war, wurde spätestens nach der Pause mit einigen engagierten und bissigen Texten gegen den Antisemiten und Hofprediger Adolf Stöcker deutlich. Immer wieder schrieb Stoltze gegen den aufkeimenden Antisemitismus des 19.Jahrhunderts an, nannte Stöcker in seiner Zeitung „Frankfurter Latern“ wiederholt einen „patentierten Antisemiten“.
Auch der christlichen Amtskirche gegenüber nahm Stoltze kein Blatt vor den Mund, kritisierte sie heftig, ging aber mit den alltäglichen Widersprüchen der Menschen sehr liebenswert um. So endete das Programm höchst versöhnlich mit der Anekdote über den „Parrer Kännche“, der zunächst eine ganze Nacht durchzecht und sich am Morgen auf der Kanzel mit seinen Saufkumpanen konfrontiert sieht – einer der beliebtesten Prosatexte Stoltzes.
Viktor Gesiarz ergänzte das Programm musikalisch mit Klezmer-Liedern auf dem Knopfakkordeon. Der studierte Physiker begleitet seinen Vater seit fast 20 Jahren. Berufsbedingt sind gemeinsame Auftritte aber selten geworden, was die Spielfreude der beiden eher steigert. Beide haben es inzwischen auf über 400 gemeinsame, Vater Gesiarz auf über 1200 Auftritte mit diversen Mundartprogrammen gebracht.
Das heiter-literarische Programm mit reichlich Lokalkolorit begeisterte die Zuschauer auch diesmal. Dazu genossen sie Kaffee und Kuchen vom Team der Orangerie. Der vergnügliche Nachmittag hatte allerdings einen ernsten Hintergrund. Das Glasdach der Veranda ist undicht. Es wurde zwar behelfsmäßig repariert, doch um es richtig in Ordnung zu bringen, fehlt das Geld. Deshalb bat Mario Gesiarz um Spenden für diesen Zweck – 526 Euro kamen zusammen.hn/mg