Schausteller bleiben auf eigene Gefahr

Schausteller bleiben auf eigene Gefahr

Lagerplatz am Main Ehepaar Kanzler will seine Heimat nicht verlieren

Seit den 60-er Jahren nutzen Schausteller ein Gelände unterhalb des Maindeichs als Winterlager. Zwei Familien leben dort sogar dauerhaft. Doch die Stadt hat ihnen den Pachtvertrag gekündigt. Der Deich soll saniert werden, deshalb müssen die Wohn- und Verkaufswagen weg und auch die Zukunft eines Hauses ist unsicher.

Die Kündigung ist seit Juni wirksam. Trotzdem nutzen die Schausteller das rund 6500 Quadratmeter große Gelände mit der Adresse Okrifteler Straße 75 auch weiterhin. Die Stadt hatten den Betreibern der Fahrgeschäfte, Süßwarenstände und sonstigen Rummelplatzattraktionen zwar verschiedene Ersatzgelände angeboten. Davon sei aber keins geeignet, lehnen die Pächter ab. Es handle sich um unbefestigte, unerschlossene Plätze, sagt Willy Stier, früherer zweiter Vorsitzender des Schaustellerverbands Frankfurt. Deshalb sei bislang erst eine der 19 Parzellen geräumt. Die übrigen Pächter wüssten schlicht nicht, wohin sie gehen sollten.

Das gilt vor allem für Heinrich (94 Jahre) und Maria (87) Kanzler. Sie leben hier, seit es das Winterlager gibt. Beide stammen aus Frankfurt und haben fast ihr ganzes Leben auf den Rummelplätzen der Region verbracht. Heinrich Kanzler, gelernter Former für Eisen- und Motorenteile und während des Kriegs im U-Boot-Einsatz, hatte sich schon als Kind ein paar Groschen als Helfer bei der Kerb verdient. Mit Hilfe eines Bekannten machte er sich 1951 mit einer Losbude selbständig. Nach der Hochzeit 1953 arbeitete auch seine Frau Maria mit. Das Geschäft gedieh. Sie vergrößerten sich, betrieben bald eine Schießbude und ein Nostalgie-Kinderkarussell. Den Sommer über waren sie unterwegs, den Winter verbrachten sie auf einem Platz im Ostend. Als der bebaut wurde, verhandelte der Schaustellerverband mit der Stadt, um ein Ersatzgelände zu bekommen. „Ich weiß noch, wie wir das hier zum ersten Mal gesehen haben. Es war ein Gartengelände und der Maindeich war nicht bepflanzt“, erinnert sich Kanzler an den ersten Besuch in Sindlingen 1966.

Versorgungsleitungen wurden gelegt, der Platz leicht befestigt, in 19 Parzellen unterteilt und umzäunt. 200 000 Mark investierten die Pächter dafür. Im Lauf der Zeit kauften mehrere Schausteller Häuser in Sindlingen, weiß Willy Stier. So hatten sie kurze Wege, um im Winter an ihren Fahrgeschäften zu arbeiten. Maria und Heinrich Kanzler blieben immer auf dem Gelände wohnen. „In einem Haus könnten wir uns nicht wohlfühlen“, sagt Heinrich Kanzler. Seine Frau ist zwischenzeitlich erblindet, er pflegt sie. „Hier im Mobilheim kennt sie jede Ecke und kommt zurecht. Wir haben immer im Wohnwagen gewohnt. Es ist unbegreiflich für mich, dass alles weg soll, um den Damm zu erneuern“, sagt er. Ursprünglich habe es geheißen, dass nur vier Meter Platz entlang des Deichs für die Maschinen der Deichbauer frei gemacht werden müssten. In dem Fall könne sein Mobilheim stehen bleiben. „Kann man denn den Damm nicht von der anderen Seite her sanieren?“, fragt er. Kanzler erinnert sich noch lebhaft daran, wie der große Kanal zum südlich anschließenden Klärwerk verlegt wurde. Das ganze Gelände sei der Länge nach aufgegraben worden, aber niemand habe deswegen weg gemusst. „Wir waren 50 Jahre hier und sollen auf einmal wegen des Damms von heute auf morgen weg“, schüttelt er den Kopf: „Seit wir die Kündigung bekommen haben, mache ich mir Sorgen. Wo sollen wir denn hin? Wir wollen hier nicht weg“.

 

Bei Hochwasser könnte der Damm brechen

 

In einer Versammlung mit Vertretern des Liegenschaftsamts sei nach Lösungen gesucht worden, berichtet Thomas Roie, Vorsitzender des Schaustellerverbands. Es zeichne sich eine Einigung ab in der Form, dass Fahrzeuge auch künftig hier überwintern könnten. Die Wohnungen aber müssten weg, berichtet Roie: „Das Problem ist die Hochwassergefahr“. Sollte der Damm brechen, könnten Menschen zu Schaden kommen. Allerdings muss erst das ganze, breite Mainvorland vollaufen, ehe ein Hochwasser auch nur an den Deichfuß schwappen würde. „Man hätte also genug Zeit, die beiden Familien zu evakuieren“, findet Roie.

Die Schausteller gehen davon aus, nach der Sanierung zumindest einen Teil des Geländes weiter nutzen zu können. Für das Liegenschaftsamt indes ist klar: „Auf Dauer können die Schausteller dort nicht bleiben“, sagt Leiter Alfred Gangel. Spätestens, wenn die Sanierungsarbeiten beginnen, müssten alle weg. „Wir haben Ersatzgelände für die Wagen an der Mainzer Landstraße angeboten“, erklärt der Amtsleiter. Für die Familien, die dann ihren Wohnort verlieren, „bieten wir Ersatzwohnungen in Frankfurt an“. Bis das Planfeststellungsverfahren durch ist, können die Schausteller „auf eigenes Risiko bleiben“, sagt der Amtsleiter. Gut möglich also, dass die Schausteller auch in den nächsten Wintern den Lagerplatz nutzen werden. Heike Appel, stellvertretende Leiterin des Frankfurter Grünflächenamts, versichert: „Räumen werden wir nicht“. hn

Maria und Heinrich Kanzler leben seit fast 50 Jahren im Schaustellerlager hinter dem Maindamm. Sie wollen ihr vertrautes Heim dort nicht verlassen. Foto: Michael Sittig

Maria und Heinrich Kanzler leben seit fast 50 Jahren im Schaustellerlager hinter dem Maindamm. Sie wollen ihr vertrautes Heim dort nicht verlassen. Foto: Michael Sittig

Bis saniert wird, fließt viel Wasser den Main hinab

Der Damm zwischen dem Gelände des Kanuvereins und dem Klärwerk gilt als nicht mehr standfest. Ein Jahrhunderthochwasser könnte ihn zum Einsturz bringen. Das Hinterland würde überflutet. Deshalb hat das Regierungspräsidium die Stadt Frankfurt aufgefordert, den Deich zu sanieren. Bis das in die Tat umgesetzt wird, dürften noch einige Jahre ins Land gehen oder, wie es so schön heißt, viel Wasser den Main hinab fließen.

„Das ist äußerst komplex“, beschreibt Heike Appel, stellvertretende Leiterin des Grünflächenamts, die Lage. Es gebe vier bis fünf verschiedene Deichsanierungsvarianten, aber keine Erfahrungen damit: Der Sindlinger Damm ist Frankfurts einziges Deichbauwerk. Favoriten sind derzeit Schutzmaßnahmen gegen ein hundert- oder ein fünfzigjähriges Hochwasser. Im ersten Fall könnte die Aufschüttung mit Hilfe einer Spundwand (spart Fläche) oder einer Erdschüttung (dann wird der Damm breiter) gestärkt werden, im zweiten Fall wird der Deich bei Bedarf mit mobilen Elementen erhöht.

Das Grünflächenamt befinde sich in engem Kontakt mit der oberen Wasseraufsichtsbehörde und der Branddirektion, sagt Heike Appel. Die Art des Ausbaus wird den Ausschlag dafür geben, ob die Wohnungen weg müssen oder nicht und ob nach der Sanierung überhaupt noch Fläche für einen Lagerplatz vorhanden ist.

Sicher ist derzeit nur eins: Es kann noch Jahre dauern, bis sich etwas tut. Je nachdem, welche Variante – nach Vorlage im Magistrat und Beschluss der Stadtverordnetenversammlung – gewählt wird, müssen wasserrechtliche Planfeststellungs-/Genehmigungsverfahren oder wasserrechtliche Erlaubnis-/Bewilligungsverfahren durchgeführt werden, erläutert das Regierungspräsidium. Finanzierung und Ausschreibung brauchen ebenfalls ihre Zeit. hn