Seitenmeister mit Freude am Gesang

Seitenmeister mit Freude am Gesang

  1. Geburtstag Philipp Becker ist in Sindlingen verwurzelt

„Die Jugend hat man uns genommen“, sagt Philipp Becker. Der Ur-Sindlinger, der am 11. Februar seinen 95. Geburtstag feierte, hatte nicht die Möglichkeit, seine Interessen und Neigungen zu erkunden, Sprachen zu lernen oder zu reisen. Er musste in den Krieg.

Die Erinnerungen daran verfolgen ihn bis heute. 1921 geboren, 1927 in der Meister-Schule eingeschult, begann er nach dem Abschluss im Alter von 14 Jahren eine Schlosser-Lehre in Höchst. Schon kurz nach der Gesellenprüfung wurde er dienstverpflichtet, um am Bau eines Bunkers in der Nähe von Ober-Mörlen mitzuarbeiten. „Dann wurde ich eingezogen“, sagt er. Als Infanterist erlebte er in Frankreich und Rußland alle Schrecken des Krieges hautnah. Verwundungen, Hunger, Kälte und der Tod der Kameraden auf dem Schlachtfeld verfolgen ihn noch heute hin und wieder im Traum. Glimpflich ging es für ihn aus, als er nach nur kurzer Kriegsgefangenschaft im Oktober 1945 nach Sindlingen heimkehren konnte. „Als erstes habe ich die Uniform aus dem Fenster geworfen“, sagt er. Im Dezember, heiratete er seine Jugendliebe Margarete. „Wir kannten uns seit Kindertagen“, berichtet er.

Der Handwerker fand gleich wieder Arbeit

Frankfurt lag in Trümmern. Doch Philipp Becker fand rasch eine Anstellung. Er arbeitete für die US-Amerikaner in Höchst, in einer Handwerker-Einheit aus Schreinern, Schlossern und Elektrikern. 1946 trat er in den Gesangverein Germania Sindlingen ein. Der Tenor, der auch Klavier spielte, engagierte sich bald schon als Vize-Dirigent. 1958 wechselte er den Arbeitsplatz. Er begann in der Bühnentechnik der Frankfurter Oper. „Ab 1960 war ich als Seitenmeister für die gesamte linke Seite der Bühne verantwortlich“, erzählt er, und auch davon, wie die Truppe das noch funktionsfähige Stellwerk aus der Ruine der alten Oper aus- und im Schauspielhaus einbaute.

Der verantwortungsvolle und interessante Beruf hatte nur einen Nachteil: „Das gesellige Leben litt darunter“, sagt Philipp Becker. Aufgrund der häufigen Abendschichten versäumte er die Gesangsstunde und auch manche Feier im Freundeskreis oder mit dem Jahrgang. „Der Philipp muss arbeiten“, entschuldigte ihn dann seine Frau.

Das Ehepaar genoss den Ruhestand

1984 ging Philipp Becker in Rente. „Ich war bei den ersten, die das mit 63 Jahren tun konnten“, sagt er. Seine Frau habe ihm zugeraten: „Schatz, wer weiß, ob Du das 65. Lebensjahr noch erlebst – geh in Rente“, ermunterte sie ihn. Die beiden haben es nie bereut. Sie genossen die gemeinsame Zeit, die Urlaube in Bayern und im Spessart, die Zeit mit Sohn und Enkeln. 2009 starb Margarete Becker, nach 63 Jahren glücklicher Ehe. Die Geburt ihres Urenkels hat sie nicht mehr erleben dürfen. Philipp Beckr besucht jeden Tag die Grabstätte auf dem Friedhof. Er ist dankbar dafür, dass er körperlich und geistig fit ist und sich selbst versorgen kann. Nach wie vor nimmt er Anteil am Geschehen in Sindlingen. Er besucht die evangelische Kirche und Veranstaltungen des Geschichtsvereins. Besonders gefreut hat ihn der Besuch der Germania-Sänger an seinem Geburtstag: „Sie kamen mit ihrem Dirigenten Hans Schlaud und haben schön gesungen“. hn

Seine Familie und vor allem sein Urenkel bereiten Philipp Becker viel Freude. Foto:Michael Sittig

Seine Familie und vor allem sein Urenkel bereiten Philipp Becker viel Freude. Foto:Michael Sittig

Philipp Becker

Philipp Becker