Der Kanal – eine ungeliebte Neuerung

Ortsgeschichte

Der Kanal – eine ungeliebte Neuerung

Einwohner wollten ihre Jauchegruben behalten

Seit 100 Jahren hat Sindlingen eine Kanalisation – was nicht allen gleich gefiel. Immerhin diente der Inhalt der bis dahin üblichen Jauchegruben als Dünger.
Anfangs war nicht mal der Bürgermeister von der Notwendigkeit eines Abwasserkanals überzeugt. Als sich ab 1908 die Diskussion um den Bau eines Kanals vertiefte, plädierte Bürgermeister Huthmacher zunächst für den Bau eines Kanals nur für Regen- und Straßenabwasser, weiß Dieter Frank vom Heimat- und Geschichtsverein. Fäkalien sollten ruhig weiter in den häuslichen Jauchegruben unter den Plumpsklos gesammelt werden.
Die festen und flüssigen Ausscheidungen türmten sich dort im Lauf der Zeit zu einem Berg aus dickem Brei. War die Grube voll, griffen die Bewohner zum „Puddelschepper“, einer großen Kelle aus verzinktem Blech am Ende eines langen Stiels, und schöpften die Fäkalien in ein „Puddelfass“. Noch heute schüttelt es Karlheinz Tratt vom Heimat- und Geschichtsverein, wenn er daran denkt. „Wir Kinder mussten die Leiterwagen mit den Puddelfässern ziehen“, erinnert sich der 75-Jährige: „Das war eine der unangenehmsten Arbeiten überhaupt.“
Die Fässer schafften die Sindlinger auf ihre Felder. Die Fäkalien dienten als Dünger. „Blaukorn gab es noch nicht“, sagt Tratt. Deshalb waren die Einwohner gar nicht amüsiert, als ihnen die Gemeindevorderen schließlich doch einen Kanal verordneten. Mehrere Gründe bewogen sie dazu. Zum einen waren die Jauchegruben meist nur einfach gemauerte Löcher im Boden. Fäkalien gelangten ins Erdreich; ein Typhus-Fall in der Bahnhofstraße rief sogar den Kreisarzt auf den Plan. Zum andern wurden zunehmend Straßen befestigt. Sickerte das Regenwasser von den Dächern vorher einfach weg, musste es auf gepflasterten Strecken gezielt abgeführt werden. Zum Dritten bekam Sindlingen ab 1908 eine Wasserleitung, so dass mehr Abwasser anfiel. Vorher gab es nur Brunnen.
Ab 1913 ließen die Gemeindeväter deshalb, ausgehend vom tiefsten Punkt, drei Kanäle verlegen. Von den Mainwiesen gruben sich die Arbeiter durch die Allesinastraße, Zehnthofgasse und Alt-Sindlingen nach oben. Sie verlegten glasierte Tonrohre, in die die Hausanschlüsse und Gullys einmündeten. „Es wurde sehr weitsichtig verlegt“, sagt Tratt: In der Bahnstraße liegt der Kanal mehr als vier Meter tief im Boden. Deshalb hat es in Sindlingen auch bei Starkregen noch nie Probleme mit Rückstaus in die Häuser gegeben.
Als der Kanal lag, wurden die Jauchegruben daran angeschlossen. Über die Wasserleitung, die nun zunehmend auch in die Häuser hinein führten, floss Abwasser hinein. Üblicherweise sanken die schwereren Bestandteile nach unten, oben blieb relativ klares Wasser stehen. Das wurde durch einen Überlauf in den Kanal geleitet, der es in den Main schwemmte. Diese Zwischenlösung wirkte wie eine Mini-Kläranlage, bewirkte eine Vorklärung.
Die nächsten Rohre wurden in der Huthmacherstraße und Verlängerung der Allesinastraße gelegt. Die Kanalisation wuchs mit dem Ort. Bald waren es die Leute leid, beim Toilettengang im Winter zu frieren und im Sommer von Schmeißfliegen umschwirrt zu werden. Die technischen Möglichkeiten erlaubten es jetzt, die Toiletten in die Häuser hineinzuholen. Also wurden die Jauchegruben einfach mit einem Stück Rohr überbrückt. Von da an liefen die Toilettenabwässer wie auch anderes Abwasser direkt in den Kanal und weiter in den Fluss.
1918 wurde Sindlingen nach Höchst eingemeindet. Doch erst 1928, als Höchst zu Frankfurt kam, erhielt es eine erste Kläranlage. Auf Sindlinger Gemarkung, in Höhe des alten Wasserturms an der Straße nach Höchst (heute Werksgelände der Infraserv), entstanden riesige Rieselbecken. Da hinein liefen die Abwässer aus Sindlingen und Höchst. Wie in den häuslichen Puddelgruben setzte sich der Schlamm ab, das oben stehende Wasser floss in den Main. Den Schlamm aus den Jauchegruben holten sich die Bauern und brachten ihn mit ihren Ponykarren auf die Felder, wo sie ihn großflächig verteilten. Solange keine Chemikalien wie Weichmacher und ähnliches im Abwasser waren, stellte das kein Problem dar.
Erst in den 60-er Jahren baute die Stadt die Großkläranlage in den Wingerten. Die alte Kläranlage wurde geschliffen. Die Hoechst AG sicherte sich das Gelände.
Die alten Kanalrohre indes ruhen noch immer tief im Sindlinger Untergrund. „Die halten noch 100 Jahre“, glaubt Tratt. Der glasierte Ton sei das beste denkbare Material. An den glatten Innenwänden bleibt nichts haften. Der Einbau erfolgte in Handarbeit. Gräben wurden ausgehoben, gesichert durch Gerüste und Sprießwände. Etagenweise reichten die Arbeiter den Aushub nach oben. Dann wurden die jeweils einen Meter langen, in den Hauptstraßen 60 Zentimeter im Durchmesser breiten und schweren Rohre hineingelassen und durch Muffen miteinander verbunden. Die Abdichtungen bestanden aus dicken Juteseilen und „Lette“ oder „Letsche“, wie die Sindlinger sagen: lehmiger Boden, der im Untergrund nie austrocknet und ideal dicht hält. Einziger Nachteil der Tonrohre ist ihre Druck- und Stoßempfindlichkeit. Deshalb wurden sie mit einer dicken Sandschicht umgeben. Sie verhinderte, dass Steine drücken und Schäden verursachen können. Obwohl viel Schwerlastverkehr durch die Hauptstraßen rollte und rollt, hat sich die Mühe der Altvorderen gelohnt. Bis heute gibt es kaum Schäden an den Sammelkanälen im alten Ort (Siehe zweiten Text). Und noch immer setzt die Stadt, zumindest bei Rohren bis 500 Millimeter Durchmesser, auf das Steinzeug. Erst ab einem Durchmesser von einem Meter wird Beton mit Stahl verwandt. hn

 

 

Der öffentliche Hauptkanal ist in Sindlingen vielerorts nach wie vor gut in Schuss. Bei einer routinemäßigen Kanaluntersuchung im vergangenen Jahr stellte der Eigenbetrieb Stadtentwässerung aber doch 30 bis 40 Schäden fest, sagte Roland Kammerer, Leiter der Abteilung Abwasserableitung und Gewässer bei der Stadtentwässerung. Einige könnten unterirdisch behoben werden, für andere müsse der Boden punktuell aufgegraben werden. Nur in den Straße Alt-Sindlingen und Zehnthofgasse müsse der Kanal in weiten Teilen ausgetauscht werden. Deshalb sollen die beiden Straßen 2015 komplett aufgegraben werden.
Die Untersuchung förderte auch zutage, dass etliche Hausanschlüsse Mängel haben. Gerade in Alt-Sindlingen und Zehnthofgasse blieb die Kamera, die durch die Rohre geschoben wird, häufig an Einläufen aus den Anwohnergrundstücken hängen. Einbrüche oder gegeneinander versetzte Rohre verhinderten den Einblick. Daraufhin erhielten die Anwohner Schreiben vom Eigenbetrieb Stadtentwässerung mit der Aufforderung, innerhalb von fünf Jahren die Untersuchung von der Grundstücksseite her zu komplettieren und Schäden beheben zu lassen. 80 Prozent der Anwohner seien betroffen, teilt die Stadtentwässerung mit.
Viele Schäden könnten wahrscheinlich durch „Inliner“ genannte Schläuche ohne große Erdarbeiten behoben werden. Wer jedoch offen sanieren müsse, könne sich der Baumaßnahme am öffentlichen Kanal anschließen, rät die Stadtentwässerung. Wer im Rahmen dieser Arbeiten seinen Hausanschluss saniert, spart sich einen Teil der Kosten für die Erdarbeiten. hn

 

Bewährter Dünger: Sindlinger Bauern holten sich den Schlamm aus den Klärbecken des ersten Sindlinger Klärwerks und schafften ihn auf ihre Felder. Im Hintergrund der „Koker“ der frühen Farbwerke.

Bewährter Dünger: Sindlinger Bauern holten sich den Schlamm aus den Klärbecken des ersten Sindlinger Klärwerks und schafften ihn auf ihre Felder. Im Hintergrund der „Koker“ der frühen Farbwerke.

Vorne rechts das Verwaltungsgebäude der ersten Kläranlage. Links davon schließen sich die Becken an. Im Hintergrund sind der „Koker“ der Farbwerke und der alte Sindlinger Wasserturm zu sehen.

Vorne rechts das Verwaltungsgebäude der ersten Kläranlage. Links davon schließen sich die Becken an. Im Hintergrund sind der „Koker“ der Farbwerke und der alte Sindlinger Wasserturm zu sehen.

In riesigen Rieselbecken setzten sich die Fäkalien aus den Abwässern von Sindlingen und Höchst ab. Die erste Kläranlage lag am Rande der Sindlinger Gemarkung. Heute ist das alles Werksgelände der Infraserv.

In riesigen Rieselbecken setzten sich die Fäkalien aus den Abwässern von Sindlingen und Höchst ab. Die erste Kläranlage lag am Rande der Sindlinger Gemarkung. Heute ist das alles Werksgelände der Infraserv.

Auf den Mainwiesen sind Graben und Rohre zu erkennen: Mitte der 60-er Jahre wurde dort ein Abwassersammler zur neuen Kläranlage in den Wingerten verlegt.

Auf den Mainwiesen sind Graben und Rohre zu erkennen: Mitte der 60-er Jahre wurde dort ein Abwassersammler zur neuen Kläranlage in den Wingerten verlegt.

Gewaltige Dimensionen: Mehr als zwei Meter im Durchmesser umfassen die Abwasserrohre, die in den 60-er Jahren im Mainvorland verlegt wurden.

Gewaltige Dimensionen: Mehr als zwei Meter im Durchmesser umfassen die Abwasserrohre, die in den 60-er Jahren im Mainvorland verlegt wurden.