Keine Romantik in der Revolution

Frankfurt liest ein Buch

Keine Romantik in der Revolution

Lese- und Gesprächsabend zu den „Vollidioten“ in der Villa Meister

Romantik, Revolution, Rätselraten: Wo liegt bloß dieses Sindlingen? Nicht jeder Frankfurter kennt den Namen des randlichen Stadtteils. Gefunden haben ihn letztlich aber wohl doch alle, die zu einer Veranstaltung im Rahmen der Reihe „Frankfurt liest ein Buch“ kommen wollten. In der ehemaligen Meister-Villa, heute Fachklinik Villa unter den Linden des Deutschen Ordens, richtete das Dezernat für Umwelt und Gesundheit nämlich einen Abend mit Gesang, Lesung und Gespräch auf der Grundlage des Romans „Die Vollidioten“ von Eckhard Henscheid aus.
Das Buch spielt im Nordend, schildert sechs Tage im Leben mehrerer Kneipen-Stammgäste Anfang der 70-er Jahre. Weit weg also von der Jugendstil-Villa und jener Goldenen Hochzeit der Familie Brentano/Allesina am 30. Mai 1774, zu der sogar der 24-jährige Goethe aus Wetzlar zu Besuch kam. Er hatte Liebeskummer, betrank sich, soll in einem Pavillon an der Mauer zum Main hin übernachtet und am nächsten Morgen schwermütig auf den Fluss gestarrt haben, wahrscheinlich verkatert und aufgrund seines Betragens ziemlich blamiert. Doch statt ins Wasser zu gehen, schrieb er „Die Leiden des jungen Werther“.
Klinik-Psychologe und Autor Dieter David Seuthe erzählte den rund 150 Besuchern, die sich im Foyer der Villa drängten, die wenig bekannte, gleichwohl gut belegte Geschichte. Schauspielerin Franziska Junge las anschließend eine Stelle aus Goethes „Italienischer Reise“ vor, in der er Bezug nimmt auf seine Sindlinger Bekanntschaften. Zuvor hatte der Chor „Randale Vocale“ Lieder der Romantik gesungen. Anschließend nahmen die Gäste im Spiegelsaal und dem angrenzenden Raum auf StühlenPlatz, die extra aus dem Römer hergebracht worden waren.
Hier las ihnen Franziska Junge zwei Szenen aus dem Roman vor. Für ihren mitreißenden Vortrag erhielt sie viel Applaus. Des weiteren sprachen Johnny Klinke (Jahrgang 1950) vom Tigerpalast, Norbert Abels (Jahrgang 1953), Chefdramaturg der Oper Frankfurt), Matthias Pees (Jahrgang 1970) vom Mousonturm und Schriftstellerin Silke Scheuermann (Jahrgang 1973) über Revolution und Romantik, Frauenbewegung, Liebe und Kultur. Als „romantisch“ empfanden sich die 68-er sicher nicht, und auch mit der Kultur hatten sie es nicht so. „Wir waren von einem tiefen politischen Sendungsbewußtsein beseelt. Die Kultur der 68-er entwickelte sich aus einer Kultur ‚gegen etwas’“, sagte Moderator Bernd Messinger (Jahrgang 1952). „Wir waren keine Künstler. Es gab keine linksradikale Kultur“, fand dagegen Johnny Klinke vom Tigerpalast: „Kunst war die Revolution.“ Die Studenten besetzen Häuser, versuchten, Opel-Arbeiter zu revolutionieren. „Im Westend und in Bockenheim ging es zur Sache“, sagte Klinke und staunte: „’Die Vollidioten‘ ist ein Buch über unsere Zeit, aber wir kommen darin nicht vor“.
Eine im Nachhinein romantische Verklärung jener unruhigen Jahre war bei den Vertretern der jüngeren Generation ebenfalls nicht auszumachen. „Wie eine verlassene Kulisse“ wirkte die Frankfurter Universität auf Silke Scheuermann, als sie 1992 zum Studium nach Frankfurt kam. Parolen an den Wänden, alles heruntergekommen. Allerdings verkennt sie nicht die Leistungen etwa in Sachen Gleichstellung: „Ich bin dem ‚Weiberrat‘ noch heute dankbar. Aber es ist längst nichts Ehrenrühriges dabei, Frau zu sein.“ Matthias Pees vom Mousonturm bekannte, „in gewisser Weise neugierig zu sein“ auf die 70-er Jahre. Aber es gebe wenig Parallelen zu heute: „Wir leben in einem anderen Kontext. Wir sind so technokratisch wie das Land“, sagte er über seine Generation. Kann Kultur heute überhaupt noch eine Revolution vorantreiben? Eher nicht, urteilte die Runde. Heute sei es vielmehr Aufgabe der Kultur, gegen „flache Unterhaltung“ anzugehen, sagte Klinke: „Wir sollten den Mut haben zur Unterhaltung.“ hn

 

 

Bezaubert von Allee und Villa

Dass eine Kulturveranstaltung der Stadt in der Drogen-Entzugsklinik Villa unter den Linden stattfand, ist Frankfurts Umwelt- und Gesundheitsdezernentin Rosemarie Heilig zu verdanken. Sie hatte das Haus vor anderthalb Jahren erstmals besucht und war von der Kastanienallee und der Jugendstil-Villa so begeistert, dass sie vorschlug, eine Veranstaltung zu organisieren. „Wir sind zuständig für Parks und Gesundheit, also auch Drogenpolitik“, erklärte ihr Büroleiter Bernd Messinger: „Das passt also“. Kliniktherapeut und Autor Dieter David Seuthe unterstützte die Idee. Natürlich gab es Auflagen: keine Getränke (erst recht keine alkoholischen) und um 21 Uhr war Schluss. Vom Andrang war Seuthe selbst überrascht. Trotzdem werden solche Veranstaltungen, die den regulären Ablauf unterbrechen, die Ausnahme bleiben. Schließlich ist die Meister-Villa zu allererst Klinik. hn