Bummel über die Sindlinger „Zeil“ – Geschichtsverein Handel und Wandel in der Allesinastraße

Bummel über die Sindlinger „Zeil“

Geschichtsverein Handel und Wandel in der Allesinastraße

Aus heutiger Sicht kaum zu glauben, aber der erste Sindlinger Supermarkt kam mit nicht mal 80 Quadratmetern aus. „Schade und Füllgrabe“ war anfangs im Eckhaus Allesinastraße/Okrifteler Straße zu finden, in dem heute das Haarstudio Venera ansässig ist.

Wer erinnert sich daran, wer kann die Annalen ergänzen? Das fragte Dieter Frank, Vorsitzender des Heimat- und Geschichtsvereins, einmal bei einem Vortragsabend, an dem es um die Allesinastraße ging. Die lang gezogene Straße, die vom Mainufer über den Mainberg bis hoch zur ehemaligen Friedenseiche an der Einmündung in die Farbenstraße reicht, ist nicht nur eine der ältesten Straßen, sondern fungierte zeitweise auch als so etwas wie eine Sindlinger Zeil. Etliche Geschäfte und Handwerksbetriebe waren dort angesiedelt.

Auf Karten von 1699 ist die Allesinastraße noch Teil der Gemeindegasse und reicht lediglich vom Main bis an die Huthmacherstraße, erklärte Frank. Um 1850 hatte sich die Ansiedlung vergrößert. Nun führte die Allesinastraße schon bis zur Bebauungsgrenze Okrifteler Straße. Sie hieß Untergasse, später Schulstraße (weil die Schule an ihr lag) und schließlich Mainstraße. Als solche erreichte sie etwa um 1925 ihre heutige Länge bis zur Farbenstraße.

Zu jener Zeit hatte die Straße schon bedeutende Änderungen erfahren. Die italienische Handelsfamilie Schweitzer-Allesina etablierte im 18. Jahrhundert auf der Hochterrasse des Mains, ganz vorne in der späteren Allesinastraße, ein Landgut. Es bestand aus einem Herrenhaus, zwei Hofreiten, Weinbergen, Äckern und Wiesen, einem Garten und einem Lokal, dem beliebten Ausflugsziel „Restauration Mainlust“. „Der schönste Platz zwischen Mainz und Aschaffenburg“, sollen Zeitgenossen geschwärmt haben.

Zumal direkt vor der Mündung des Mainbergs der Landungsplatz lag, der Sindlinger Hafen sozusagen. Fischerboote, Holzlieferungen und weitere Handelsgüter wurden dort angelandet. 1903 jedoch wurde das Herrenhaus abgerissen, der Landungsplatz Ende der 1920-er Jahre aufgefüllt. In den 40-er Jahren entstanden die Villa Caspar (Haus Nummer 2) und die Grünanlage am Ufer. Seither hat sich dort äußerlich nicht mehr viel verändert.

Trotzdem ist die Zeit nicht stehen geblieben. Anhand der Berufe der Anwohner beispielsweise lässt sich die allgemeine Entwicklung Sindlingens vom Bauerndorf zur Arbeitersiedlung verfolgen. Laut einem Adressbuch von 1895 lebten entlang der Allesinastraße zwölf Landwirte, 14 Arbeiter und elf Tagelöhner. 1925 waren es noch acht Landwirte und zwei Tagelöhner, aber schon 20 Arbeiter. Hinzu kamen viele neue Berufe, sowohl qualifizierte als auch handwerkliche. Insgesamt existierten 1925 in Sindlingen 83 Betriebe und 91 Geschäfte, darunter 15 Kolonialwarenläden, elf Gaststätten, 13 Musiker, fünf Baugeschäfte, vier Milchhändler und vier Metzger.

An der Allesinastraße wurde um 1830 das Rathaus errichtet und nebenan die Schule. Nachdem sie in den Neubau an der Herbert-von-Meister-Schule umgezogen war, nutzte die Feuerwehr über Jahrzehnte das hintanliegende Gelände als Standort. An der Ecke zur Huthmacherstraße stand das Wiegehäuschen, im Haus Nummer 11 befand sich eins der größeren Geschäfte mit 40 bis 50 Quadratmetern Ladenfläche. Es gab einen „Konsum“-Lebensmittelladen und bis in die 50-er Jahre den Schade und Füllgrabe an der Ecke Okrifteler Straße. Die Preise, die dort verlangt wurden, waren atemberaubend. Für ein Pfund Speck zahlten die Kunden 1200 Milliarden Mark, für einen Liter Vollmilch 650 Milliarden – es war die Zeit der Inflation.

In der Mainstraße 32, neben Schade, befand sich ein Schuhgeschäft (Schuh-Distel), des weiteren wurden dort Fahrräder und Nähmaschinen verkauft (vor dem Ersten Weltkrieg) und es gab auch einen Uhrmacher. Auf der anderen Straßenseite befand sich das Farbenhaus Löllmann, im Hinterhaus zeitweise eine mechanische Werkstatt und eine Wäscherei. Im Eckhaus Möller waren über die Jahre hinweg mehrere Betriebe heimisch, nämlich Fliesen- und Plattenleger Möller, Südfrüchte Erna Kopp, Friseur Manfred Weiss und ein Uhrengeschäft.

Im Gasthaus „Zum Bayerischen Hof“ betrieb Peter Schwenk eine Apfelweinwirtschaft mit Kegelbahn. Die funktionierte so, dass Kinder die Kegel nach jedem Wurf von Hand wieder aufstellten. Im Saal übte früher auch der Gesangverein Germania. Heute ist dort die Firma Sittig ansässig. Kohlen-Hartmann und Auto-Langenberg sind auch noch heute ein Begriff. „In fast jedem Haus war damals ein Gewerbebetrieb beheimatet“, bilanzierte Frank.

Doch nach und nach reduzierte sich deren Zahl. Das letzte Milchlädchen wich einer Reinigung, die zwischenzeitlich ebenso verschwunden ist wie das Farbengeschäft Löllmann und zuletzt, nach der Gasexplosion 2007, das „Allesinastübchen“ – in dem in den 70-er Jahren eine der ersten Sindlinger Pizzerien eröffnet hatte. Heute ist die Allesinastraße vor allem eine Wohnstraße, verkehrsberuhigt, vor allem im Frühjahr, wenn die Felsenbirnen blühen, schön anzusehen und dominiert von den drei Schornsteinen der Müllverbrennungsanlage der Infraserv auf der anderen Mainseite. hn

Kopfsteinpflaster, Backsteinhäuserm keine Autos: die Allesinastraße einst.

Kopfsteinpflaster, Backsteinhäuserm keine Autos: die Allesinastraße einst.

Kopfsteinpflaster nur auf den Schwellen, verputzte Fassaden, Bäume und Autos: die Allesinastraße jetzt. Foto: Michael Sittig

Kopfsteinpflaster nur auf den Schwellen, verputzte Fassaden, Bäume und Autos: die Allesinastraße jetzt. Foto: Michael Sittig