In fast jedem Haus ein Laden – Stadtteilhistorie Geschichtsverein dokumentiert den Wandel im Handel

In fast jedem Haus ein Laden

Stadtteilhistorie Geschichtsverein dokumentiert den Wandel im Handel

An jeder Ecke ein Lebensmittelladen. Sieben Bäcker, sieben Metzger. Kleiderläden, Kolonialwaren, Schneider, Schuhmacher, Möbel-, Elektro- und Haushaltswarenläden, Friseure, Drogerien, Zeitschriften- und Schreibwarenläden: All das gab es in Sindlingen Mitte der 50-er Jahre.

Hinzu kamen Handwerker jeglichen Metiers und natürlich die Lokalitäten. Große Saalwirtschaften wie der Bayerische Hof, der Frankfurter Hof, Löwe, Adler oder Krone beförderten das gesellschaftliche und soziale Leben. Heute dagegen beklagen viele Sindlinger, dass es vor Ort kaum etwas gebe. Was ist aus den Geschäften geworden? Das hat der Heimat- und Geschichtsverein untersucht. Dabei herausgekommen sind 364 Seiten über den „Wandel in der Versorgungsstruktur des Frankfurter Stadtteils Sindlingen im 20. Jahrhundert“. Erstellt hat das Buch der Vorsitzende Dieter Frank, unterstützt von Vereinsmitgliedern und gefördert durch die Initiative „Stadtteilhistoriker“ der Stiftung Polytechnische Gesellschaft in Zusammenarbeit mit der Gerda-Henkel-Stiftung und der Frankfurter Neuen Presse.

„Wir hören heute ja oft Klagen, dass es nur noch so wenige Einkaufsmöglichkeiten vor Ort gibt. Frühere Geschäfte sind heute Wohnhäuser. Wir haben überlegt: Woher kam der Wandel, wie ging er vor sich?“, schildert Dieter Frank die ursprüngliche Idee 2008. „Es ging uns darum, alles ohne Wehmut nachzuvollziehen und in Erinnerung zu halten.“ Zum zwanzigjährigen Bestehen des Vereins sollte das Buch fertig sein. Das ist gelungen. Die Mitglieder erhalten die höchst informative Schrift geschenkt, alle anderen können sie beim Ranzenbrunnenfest am 3. September am Stand des Heimat- und Geschichtsvereins zum Sonderpreis von 12 Euro erwerben. Danach ist es für 14 Euro in verschiedenen Sindlinger Geschäften zu bekommen.

Vorangestellt ist dem Buch eine Einführung über die Entwicklung des Einzelhandels auf nationaler Ebene, von den ersten Kauf- und Warenhäusern über Genossenschaftsbetriebe bis zur Entstehung der Filialisten, Super- und Verbrauchermärkte sowie Discounter. Anschließend schildert Dieter Frank den Wandel allgemein und speziell in Sindlingen. Im zweiten Teil dokumentiert er die einzelnen Geschäfte, gegliedert nach Straßen, eng verbunden mit den Schicksalen der Besitzer, bebildert und durch alte Annoncen belebt.

Dazu war eine umfangreiche Quellenarbeit nötig. Frank studierte alte Kreisblatt-Ausgaben und Festschriften der Vereine. Dort annoncierten die örtlichen Geschäftsleute. „Wir haben auch sehr viel Vor-Ort-Recherche betrieben, Befragungen und Besuche vorgenommen und versucht, über persönliche Beziehungen und Bindungen an Informationen zu kommen“, schildert Dieter Frank die aufwendige, investigative Arbeit. Ein Beispiel dafür ist ein Interview mit Marga Merz, geborene Fischer. Sie berichtet darin anschaulich über die Arbeit in der Metzgerei in der Huthmacherstraße, die sie mit ihrem Mann betrieb. Auch andere Familien haben erzählt und Unterlagen überlassen. So formte sich allmählich ein Bild von der Struktur des Einzelhandels im „alten Ort“ südlich der Bahnlinie der S1.

Die Studie belegt so auch die tief greifenden Veränderungen des Lebens am Stadtrand. In den frühen Jahren des 20. Jahrhunderts waren die Menschen auf eine umfangreiche Vor-Ort-Versorgung angewiesen. Kaum jemand hatte ein Auto oder einen Kühlschrank. Das Nötige musste in fußläufiger Entfernung zu bekommen sein. So erklärt sich die enorme Konzentration von rund 80 Gewerbebetrieben und Lebensmittelgeschäften Mitte der 50-er Jahre. Dabei waren diese Geschäfte allesamt nicht größer als ein Wohnzimmer. Sogar das erste Sindlinger Kaufhaus „Schade und Füllgrabe“ kam von 1911 bis 1955 mit den 40 Quadratmetern aus, die das Eckhaus Allesinastraße 32/Okrifteler Straße bietet.

Mit dem gesellschaftlichen Wandel (Wirtschaftwunder, Mobilität, neue technische Möglichkeiten, neue Familienstrukturen, neue Ansprüche) konnten die kleinen, inhabergeführten Läden nicht mithalten. So sank die Zahl der Lebensmittelgeschäfte und Nahversorger von 30 um 1960 auf fünf im Jahr 2000. Statt sieben versorgen zwei Bäckereien die Bevölkerung, einen Metzger gibt es nicht mehr. Die meisten Fachgeschäfte sind verschwunden, wie auch fast alle der alten Gaststätten.

So wundert es nicht, dass die Autoren einer Studie zur Einzelhandelsstruktur 2002 Sindlingen als von der Innenstadt getrennte Geschäftslage mit überwiegender Nahversorgungsfunktion bewerteten. Ein Versorgungszentrum bildet der Ortsmittelpunkt „Dalles“. Die Leerstandsquote ist alarmierend hoch und Indiz für einen „fortgeschrittenen Erosionsprozess“. Das Stadtbild ist nicht attraktiv. Es fehlen Standort- und Wettbewerbsbedingungen für ein bedarfsgerechtes Einzelhandelsangebot, heißt es in der Studie. „Die Versorgung Sindlingens ist weithin vom Rewe-Markt mit seinen 750 Quadratmetern Ladenfläche abhängig“, bilanziert Dieter Frank. hn

Als „Stadtteilhistoriker“ hat Dieter Frank die Veränderungen in der Versorgungsstruktur Sindlingens untersucht und auf 364 Seiten dokumentiert. Foto: Michael Sittig

Als „Stadtteilhistoriker“ hat Dieter Frank die Veränderungen in der Versorgungsstruktur Sindlingens untersucht und auf 364 Seiten dokumentiert. Foto: Michael Sittig

Zur Statistik

Verglichen mit den anderen Stadtteilen im Frankfurter Westen hat Sindlingen die wenigsten Einzelhandelsbetriebe mit den geringsten Ladenflächen und dem niedrigsten Umsatz sowie die schwächste Kaufkraft (18 718 Euro je Einwohner). 39 Betriebe teilen sich 2770 Quadratmeter Verkaufsfläche, hat Dieter Frank herausgefunden. Zum Vergleich: In Zeilsheim gibt es 43 Betriebe mit 6300 Quadratmetern, die Kaufkraft beträgt 18 839 Euro je Einwohner