Vergangen, aber nicht vergessen

Vergangen, aber nicht vergessen

Geschichtsverein Lilo Günzler erzählt, wie sie die Nazi-Zeit als Halbjüdin in Frankfurt überlebte

Still, fast totenstill war es im Gemeindesaal der evangelischen Kirche. Jeder der etwa 25 Zuhörer lauschte gebannt den Worten der Erzählerin Lilo Günzler, die gerade die ergreifende Szene schilderte, als sie sich von ihrem Bruder und ihrer Mutter verabschieden musste. Am 14. Februar 1945, der Krieg war schon fast verloren, mussten die beiden auf den Transport ins KZ Theresienstadt. Auf einem Verladeplatz standen mehrere offene Güterwaggons, Viehwagen. Jeweils 60 Personen wurden in einem Waggon zusammengepfercht. Lilo wollte noch „Auf Wiedersehen“ rufen, sie bekam aber keinen Ton heraus. Obwohl ihr Bruder noch rief: „Wir kommen wieder!“, fürchtete sie, dass sie für immer ihre Mutter und ihren Bruder verloren hatte.

Diese Szene war eine der dramatischsten Schilderungen, mit denen Lilo Günzler die Zuhörer fast 90 Minuten in Atem hielt. Als Halbjüdin (Vater „arisch“, Mutter „Jüdin“) erlebte sie als Kind, geboren am 11. Januar 1933, die immer spürbarere Ausgrenzung der Juden aus dem Leben in Frankfurt, spätestens mit dem Brand der Synagoge im Jahr 1938.

Besonders schlimm traf es ihren Bruder Helmut, der im Sprachgebrauch des Nationalsozialismus ein „Volljude“ war, was bedeutete: Gesonderte Zuteilungskarten, Schulwechsel ins Philanthropin (Schule der israelitischen Gemeinde), schließlich Wechsel in das jüdische Waisenhaus und Kennzeichnung durch den gelben Stern. Außerdem war der Familie der Lebensmittelkauf nur donnerstags zwischen 18 und 20 Uhr möglich. 1943 musste sie sogar in ein so genanntes „Judenhaus“ in Frankfurts Innenstadt umziehen, da eine Nachbarin nicht mehr „mit einer Jüdin unter einem Dach wohnen wollte.“

Die Angst war von nun an ihr ständiger Begleiter. Nur dank der Hilfe von Nachbarn und Arbeitskollegen konnte die Familie die Zeit zwischen 1938 und 1945 überstehen. Es waren aber zum Teil nur zahlreiche glückliche Zufälle, die dies ermöglichten.

„Es grenzte schon an ein Wunder“, sagte Lilo Günzler, dass schließlich doch noch alle diese Zeit überlebten, trotz Bombenhagel und Transport nach Theresienstadt.In den letzten Kriegswochen lebte sie ganz allein in einer Wohnung in der IG Farben-Siedlung, ihr Vater war zum Volkssturm einberufen worden. „Die letzten Kartoffeln hatte ich aufgegessen, es waren nur noch etwas Kunsthonig und harte Brotkrusten übrig. Mit etwas Wasser verdünnte ich den Kunsthonig und tunkte die Brotkrusten in meine Tasse.

Ganz langsam ließ ich sie im Mund zergehen, es schmeckte herrlich. Und dann geschah das Unfassbare: Es klopfte an die Haustüre. Ich ging die Kellertreppe hoch, mein Puls raste so sehr, dass ich fast keine Luft mehr bekam. Ich konnte nichts sehen; ich erkannte aber einen Schatten und öffnete die Tür. Vor mir stand ein farbiger Soldat! Das konnte kein Deutscher sein! Das musste ein Amerikaner sein! Der Krieg war vorbei!“ Und dann kehrten sie wirklich alle zurück: der Vater und ihre Mutter mit Helmut.

Erleichterung machte sich auch im Zuhörerraum breit, schließlich hatte die Erzählung den Besuchern ein authentisches Bild dieser Zeit vermittelt. Lang anhaltender Applaus zeigte, dass Lilo Günzler alle im Saal in ihren Bann gezogen hatte. df

Lilo Günzler beschrieb ihre Jugendjahre in Frankfurt in der Nazi-Zeit. Foto: Michael Sittig

Lilo Günzler beschrieb ihre Jugendjahre in Frankfurt in der Nazi-Zeit. Foto: Michael Sittig