Bange Stunden im Bunker

Bange Stunden im Bunker
ERster Weltkrieg Ein Kind wird geboren, ein Betttuch gehisst – Erinnerungen

Der „Bunker“ ist ein Relikt, in dem heute glücklicherweise niemand mehr Schutz zu suchen braucht. Vor 70 Jahren war das anders. Lieselotte „Lilo“ Heim (83 Jahre), geborene Merz, folgte dem Drängen ihrer Kinder und Enkel und hat ihre Erinnerungen aufgeschrieben.
Von Lieselotte Heim

„Nachdem der Luftschutzbunker gebaut worden war, eilten meine Mutter, meine Großmutter, Heinz, mein vier Jahre jüngerer Bruder, und ich bei Ertönen der Sirene dorthin; unser so genannter Luftschutzkeller im Haus war wegen häufigen Hochwassers ungeeignet. Nachdem aber die Alarme immer häufiger und die Alarmzeiten immer länger wurden, mietete meine Mutter eine so genannte Schlafkabine, und wir begaben uns am frühen Abend in den Bunker und blieben dort bis zum Morgen. Als dann im März 1945 die Amerikaner immer näher kamen, gingen wir ganz in den Bunker.
Wie aufgeregt waren wir alle, als wir hörten, dass im Bunker ein Kind geboren werden sollte. Am 29. März 1945 erblickte Gisela Probst das Licht der Welt, nicht in einer Herberge, sondern im Sindlinger Luftschutzbunker. Ihre Mutter war Gretel (Margarete) Probst, geborene Weber, Tochter von Pfarrer Hans Weber und Enkelin des ersten evangelischen Pfarrers von Sindlingen, Ludwig Weber. Gott sei Dank verlief die Geburt problemlos, denn es war „nur“ eine Hebamme da. Der Arzt, der ihr eigentlich beistehen sollte, ihr Onkel Paul Weber, war mit dem letzten Aufgebot des Volkssturms unterwegs zum Kreiswehrersatzamt in Bad Homburg. Mit wie vielen Männern er in Bad Homburg ankam, weiß ich leider nicht. Es hielten sich Gerüchte, dass er allein dort angekommen sei. Tatsache ist, dass er auf dem Weg dorthin in Abständen immer wieder Männer mit Krankschreibungen nach Hause entließ, darunter auch meinen Vater, und dadurch viele Frauen und Kinder ihm unendlich dankbar waren.
Ein für mich traumatisches Erlebnis ereignete sich am 31. März 1945. Wir lebten, wie gesagt, schon im Bunker, als die Nachricht verbreitet wurde, es gäbe nochmals eine Zuteilung auf Lebensmittelkarten. Leider glaubten wir dieser Meldung und meine Mutter und ich eilten zu unserem Lebensmittelgeschäft in die Gustavsallee, wo wir feststellen mussten, dass es sich um enie Falschmeldung gehandelt hatte. Nachdem wir noch schnell etwas aus unserem Haus geholt hatten, eilten wir den „Kirchberg“ hinauf. Aus einem Fenster des ersten Stocks des Gemeindehauses schaute Schwester Karoline heraus und rief: „Was machen Sie denn noch auf der Straße? Das ist doch viel zu gefährlich! Eilen Sie sich, alles Gute und Gottes Segen!“

Ein Mädchen stirbt
im Kugelhagel

Gegenüber befand sich die Wäscherei Betz. Aus dem Fenster im ersten Stock rief Herr Betz meine Mutter an: „Frau Merz, können Sie nicht Ottilie (eine Klassen- und Spielkameradin von mir) mit in den Bunker nehmen? Sie hat so furchtbare Angst und will nicht in unseren Keller!“ – Darauf meine Mutter: „Gern, sie müssen sich aber eilen!“ – Dann Ottilie: „Lauft schon vor, ich bringe nur noch einen schweren Koffer für meine Eltern in den Keller, ich komme sofort nach!“ –
Aber als meine Mutter und ich gerade an der Tür des Glockenturms waren, ging der Artilleriebeschuss los, und Ottilie wurde beim Verlassen des Hoftores tödlich getroffen. Wir hörten nur Entsetzensschreie. Ich war wie versteinert, doch meine Mutter zog mich weiter. Wir sind dann wie „Karnickel“ die Bahnstraße entlang Richtung Bunker gehastet, immer beim Pfeifen einer Granate auf den Boden geworfen, dann wieder aufgestanden … Als wir endlich zum Bunker kamen, war dieser wegen der Gefahrensituation bereits geschlossen. Wir schrieen verzweifelt. Wie wir später erfuhren, standen jenseits der Tür meine Großmutter und mein Bruder und fehlten den Bunkerwart an, die Türe nochmals zu öffnen und uns hereinzulassen. Wie meine Großmutter es fertigbrachte, weiß ich nicht, aber er ließ uns tatsächlich ein und sagte zu ihr: „Ich habe etwas gut bei Ihnen!“ – (Was ich vorher nie gesehen hatte und auch später nie mehr sah: Meine Großmutter hatte in der Zeit unserer Abwesenheit einen breiten weißen Streifen Haar bekommen).
Den Gefallen forderte der Bunkerwart schon bald ein. Er tuschelte einige Zeit mit meiner Großmutter und zog anschließend mit einem weißen Betttuch zu unserer Verwunderung ab, legte aber den Zeigefinger zum Zeichen des Schweigens auf den Mund. „Ich bekommt später eine Aufklärung“, meinte Großmutter. Des Rätsels Lösung: Der Bunkerwart wollte den von Hattersheim her ausrückenden Amerikanern signalisieren, dass sich der Bunker kampflos ergibt und hisste dazu das Betttuch auf dem Dach. Da sich aber im Bunker noch deutsche Soldaten befanden und er nicht wusste, wie diese sich verhalten würden, musste es heimlich geschehen.
Soviel ich weiß, konnten oder mussten wie einen Tag später, also am 1. April, den Bunker verlassen und bewunderten als erstes unser wehendes Betttuch auf dem Bunker.
Sehr schmerzlich war der Heimweg und das Heimkommen. Jetzt erfuhren wir, dass auch Schwester Karoline von einer Granate getötet worden war und der „Besuch“ bei Ottilie, die in ihrem Kommunionkleid aufgebahrt war, war nur schwer zu verkraften. Vergessen kann man solche Erlebnisse sowieso nicht.

Lieselotte Heim (rechts) suchte als Kind häufig Schutz im Sindlinger Bunker, wenn die Sirenen Fliegeralarm gaben.Fotos: Michael Sittig

Lieselotte Heim (rechts) suchte als Kind häufig Schutz im Sindlinger Bunker, wenn die Sirenen Fliegeralarm gaben.Fotos: Michael Sittig

Zur Person
Lieselotte Merz wurde 1932 im Wöchnerinnenheim der Farbwerke geboren. Ihre Familie lebte zunächst in Hattersheim und zog 1937 in das Haus der Großeltern in Sindlingen, das zur Villenkolonie der Farbwerke gehörte. Der Bachgraben trennte die „Villa Daheim“ in der Gustavsallee 15 vom damaligen evangelischen Gemeindehaus. Gegenüber befand sich das Haus von „Rektor Nickel“, dessen Enkeltochter Lieselotte „Lotte“ Guckes häufig zu Besuch kam. Lilo Merz machte Abitur an der Königsteiner Ursulinenschule, heiratete 1952 Hans Heim und musste Sindlingen 1955 verlassen, als die Villenkolonie abgerissen wurde. Nach einer kurzen Zeit in Unterliederbach zog das Paar nach Dreieich. Dort erzog Lilo Heim die Kinder und absolvierte eine Ausbildung zur Apotheken-Assistentin, um ihrem Mann in dessen Apotheke helfen zu können. An den Geschehnissen in Sindlingen ist sie nach wie vor interessiert. Die Freundschaft mit Lotte Guckes, „die im Sandkasten begann (sie war sechs Jahre alt, ich fünf) hat bis heute angehalten. Sie versorgt mich mit Sindlinger Neuigkeiten, unter anderem mit Zeitung und Kalender“, sagt Lieselotte Heim und freut sich schon auf nächstes Jahr, wenn in der evangelischen Gemeinde Konfirmationsjubilare zur gemeinsamen Feier eingeladen werden. Dann liegt ihre eigene Konfirmation in Sindlingen genau 70 Jahre zurück.

In diesem schmucken Häuschen der „Villenkolonie“ lebte Familie Heim, bis die Farbwerke die Gebäude abreißen ließen.

In diesem schmucken Häuschen der „Villenkolonie“ lebte Familie Heim, bis die Farbwerke die Gebäude abreißen ließen.

 

Wiedersehen mit Karin Ebert
Der Sindlinger Heimat- und Geschichtsverein hat für Montag, 12. Oktober, eine ganz besondere Zeitzeugin eingeladen: Karin Ebert, über viele Jahre Leiterin der Kita 31 (Pfingstbornstraße).
Unter anderem das 50-jährige Bestehen dieser Einrichtung ist für den Geschichtsverein Anlass, das Thema aus Sicht einer Fachfrau zu beleuchten, die aus erster Hand über die Entwicklung und Veränderung von Kindern und Kindheit in Sindlingen erzählen kann. Gerade die aktuelle Diskussion zur frühkindlichen Betreuung, die Kindern bereits ab dem ersten Lebensjahr einen Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz zusichert, zeigt die Aktualität der öffentlichen Kinderbetreuung wie auch die Brisanz, die mit fehlenden Betreuungsplätzen einhergeht. Von daher freut sich der Sindlinger Geschichtsverein, mit Karin Ebert eine erfahreren Expertin begrüßen zu dürfen.
Der Geschichtsverein lädt zu dieser Veranstaltung, die um 19.30 Uhr im evangelischen Gemeindehaus in der Gustavsallee stattfindet, insbesondere alle „Ehemaligen“ von Karin Ebert ein.DF